Das Cannes-Tagebuch von OutNow - Tage 4 und 5: Kritikerwoche
Filmkritikerinnen und -kritiker sitzen in Cannes nicht nur im Publikum, sondern auch in der Auswahlkommission. Zumindest in einer kleinen Nebensektion, die wir heute kurz vorstellen möchten.
Wie Cannes-Kennerinnen und -Kenner wissen, gibt es hier nicht nur das offizielle Programm, sondern auch die autonomen Nebensektionen. Über die «Quinzaine des Réalistateurs», die seit letztem Jahr neu «Quinzaine des Cinéastes» heisst, haben wir schon einige Male berichtet, so beispielsweise auch vorletztes Jahr. Heute wollen wir ein kurzes Scheinwerferlicht auf die andere traditionelle Nebensektion in Cannes legen, die «Semaine de la Critique».
Wie es der Name schon vermuten lässt, ist diese Sektion von Filmkritikerinnen und Filmkritikern kuratiert. Wie die Quinzaine hat sie einen eigenen Wettbewerb, eine eigene Jury und mit dem «Miramar» auch eine eigene Spielstätte. Wenn auch ein wenig im Schatten der grossen Roten-Teppich-Premieren, haben hier in den letzten Jahren immer wieder Filme Weltpremiere gefeiert, die später von sich reden gemacht haben. It Follows, Raw oder Aftersun sind nur drei Beispiele dafür.
So eignet sich diese Sektion auch immer, um die Werke von weniger bekannten Regisseurinnen und Regisseure zu begutachten - wer weiss, vielleicht ist ja eine spätere Palmengewinnerin oder ein späterer Palmengewinner darunter? Es wäre nicht das erste Mal. Raw-Regisseurin Julia Ducornau hat es 2021 mit ihrem Nachfolgewerk Titane im «grossen» Cannes-Wettbewerb eindrücklich gezeigt.
Dieses Jahr habe ich der Eröffnung der Semaine de la Critique beigewohnt. Den Mangel an Glamour machte die künstlerische Leiterin Ava Cahen dabei durch eine Extra-Portion Enthusiasmus wett, unter anderen, indem nicht nur ihre eigenen Ansprachen, sondern auch diejenigen der anderen Rednerinnen und Redner gestisch und mimisch begleitete. Ein wenig nervös machte mich dabei der offensichtlich riesige Stapel an Spickzetteln, den sie dabei in den Händen hielt. Was, das alles will sie heute Abend sagen? Ja, wollte sie. Und neben ihr noch einige weitere Personen.
Gerade das ist ein wenig das Problem an solchen Eröffnungszeremonien - zumindest für alle wie ich, die hauptsächlich wegen des Films vor Ort sind. Denn viele Gäste haben anschliessend einen weiteren Film auf dem Programm, und Verzögerungen führen zu Terminkollisionen. So rutschte auch ich während der Eröffnungszeremonie immer unruhiger auf dem Stuhl herum, da ich eigentlich nachher noch rüber zu den Kollegen der Quinzaine wollte. Doch irgendwann musste ich mir eingestehen: Dieser Plan ist nicht mehr realistisch.
Mit leisem Murren annulierte ich auf dem Handy mein Ticket und versuchte nicht allzu angepisst dreinzuschauen - ich sass nämlich in der ersten Reihe und wollte der künstlerischen Leiterin nicht den Enthusiasmus nehmen. Denn gerade dieser Enthusiasmus machte die Zeremonie trotz aller Verspätungen und allzu langer Rederei eben doch sympathisch. Denn es machte spürbar: Hier steht eine Person, die mit riesiger Leidenschaft für das Kino lebt. Das wirkt zwar etwas weniger professionell-abgeklärt, als beispielsweise bei Kollege Thierry Frémaux vom offiziellen Festival, aber dafür auch authentischer. Und diese Leidenschaft der ersten Reihe zu erleben, entschädigt doch ein klein wenig für den verpassten Anschlussfilm.