«Ich versuche Humor in etwas zu finden, das nicht lustig ist» - Das Interview zu «La dérive des continents (au sud)» mit Lionel Baier und Ursina Lardi

Wir sprachen mit dem Regisseur und der Schauspielerin in Solothurn über den Spagat zwischen Humor und Abgrund, mögliche Titel für Baiers Europa-Filmreihe sowie über… «Ice Age»?!

Tom Villa und Ursina Lardi in «La dérive des continents (au sud)» © Pathé Films AG

In La dérive des continents (au sud), dem neuen Film des Lausanner Regisseurs Lionel Baier, geht es um einen bevorstehenden Besuch von Angela Merkel und Emmanuel Macron in einem Flüchtlingslager in Italien. Die Bündner Schauspielerin Ursina Lardi spielt die deutsche Gesandte, die dafür sorgen soll, dass die anstehende Stippvisite der Kanzlerin ein PR-Erfolg wird. Wir haben Baier und Lardi anlässlich der Deutschschweizer Premiere des Films an den Solothurner Filmtagen zum Interview getroffen.

Der Film spielt im Frühjahr 2020. Warum hast du, Lionel, gerade diese Zeit gewählt?

Lionel Baier: Die Arbeit am Drehbuch hatte bereits 2015 begonnen, und seither hat sich die politische Landschaft stark verändert. Ursprünglich war die Hauptfigur eine britische EU-Funktionärin. Aber dann kam der Brexit, und so das hat nicht mehr funktioniert. Anfang 2020 wollten wir mit den Dreharbeiten in Italien beginnen, aber dann kam die Pandemie und wir mussten alles verschieben. Da haben wir uns entschieden, die Handlung im Frühjahr 2020 anzusiedeln, weil alle noch wissen, wo sie waren und wie sie es erlebt haben. Diese Zeit hat sich in unser Gedächtnis eingebrannt.

Macron und Merkel sind in dem Film zu sehen, aber nur in Nachrichtenaufnahmen. War es mal die Absicht, Merkel und Macron mit einer Schauspielerin, einem Schauspieler zu besetzen?

Lionel Baier: Das nicht, denn sie stehen eher im Hintergrund der Geschichte. Wenn ich diese Figuren hätte besetzen müssen, wären sie mehr im Vordergrund gestanden, aber das wollte ich nicht. Mich interessierten eher die Menschen, die zwischen und neben diesen Machtfiguren agieren - also die Figuren von Ursina Lardi und Tom Villa, die das Flüchtlingslager für den bevorstehenden hohen Besuch auskundschaften.

Ivan Georgiev, Isabelle Carré und Ursina Lardi in «La dérive des continents (au sud)»
Ivan Georgiev, Isabelle Carré und Ursina Lardi in «La dérive des continents (au sud)» © Bandita Films

Hättest du gerne Merkel und/oder Macron gespielt, Ursina?

Ursina Lardi: Macron wäre sicher spannend gewesen. (lacht) Aber Spass beiseite, ich bin sehr zufrieden mit meiner Rolle. Menschen wie meine Ute Lerner entscheiden, welche Bilder in die Medien kommen und was damit propagiert wird. Sie sind enorm wichtig für die öffentliche Wahrnehmung, auch wenn sie selbst nie gesehen werden. Weil man nie über diese Figuren nachdenkt, könnten sie sehr überraschende oder auch abgründige Menschen sein. Man kann mit ihnen Dinge besprechen, die man mit den Menschen an der Macht nicht besprechen kann.

War es das, was dich an der Rolle gereizt hat?

Ursina Lardi: In erster Linie wollte ich nach Prénom: Mathieu unbedingt wieder mit Lionel zusammenarbeiten. Weiter freut es mich jeweils, in einer anderen Sprache als Deutsch zu drehen, und zudem gefiel mir auch die Art von Humor bei so einem Thema. Lionel schafft es, selbst aus heiklen Themen Humor herauszukitzeln, ohne den Respekt vor den Abgründen zu verlieren.

Ist dieser Balance-Akt zwischen Humor und Abgrund der schwierigste Teil deiner Arbeit, Lionel?

Lionel Baier: Ich versuche Humor in etwas zu finden, das nicht lustig ist. Man muss dabei sehr vorsichtig sein, besonders beim Schreiben. Denn mit einem Drehbuch versucht man auch, die Finanzierung für einen Film zu sichern. Da muss man aufpassen, dass man nicht missverstanden wird. Der nächste Punkt, der nicht unterschätzt werden sollte, ist das Casting. Wenn die Schauspielerinnen und Schauspieler die Art von Humor falsch rüberbringen, kann es obszön werden.

Ursina Lardi: Ich denke, dass Humor auch im wirklichen Leben bei ernsten Themen unheimlich wichtig ist. Denn er hilft, etwas Abstand zu gewinnen und so kann man ein bisschen klarer denken und dann auch wieder klarer handeln.

«La dérive des continents (au sud)»
«La dérive des continents (au sud)» © Bandita Films

Dieser Film ist der dritte Teil einer Tetralogie über Europa und soweit ich weiss, war diese Tetralogie nicht von Anfang an geplant, oder?

Lionel Baier: Genau, der Gedanke zu einer Reihe kam mir erst nach dem Abschluss der Dreharbeiten in Polen zu Comme des voleurs (à l'est). Ich dachte, es könnte interessant sein, weitere Filme im Abstand von einigen Jahren zu drehen und so festzuhalten, wie sich Europa verändert hat.

Würdest du jetzt, da es sich um eine Reihe handelt, etwas an den vorherigen Filmen ändern, wenn du könntest?

Lionel Baier: Da die Filme nicht durch die Handlung, sondern thematisch miteinander verbunden sind, besteht keine Notwendigkeit, irgendetwas anzupassen. Die Filme sind ohnehin Momentaufnahmen. Als wir Les Grandes Ondes (à l'ouest) 2012 in Portugal drehten, hatte man das Gefühl, dass es die EU noch fünf Jahre lang geben würde - jetzt haben wir 2023 und die EU gibt es immer noch. Wir konnten auch nicht vorhersehen, dass Covid unser Leben für eine Weile beherrschen würde. Ich mache mir also keine Vorwürfe und bereue nichts.

Lionel Baier
Lionel Baier © Pathé Films AG

Nach Comme des voleurs (à l'est), Les grandes ondes (à l'ouest) und La dérive des continents (au sud) fehlt jetzt eigentlich nur noch der Norden. Kannst du schon etwas über diesen vierten Teil sagen?

Lionel Baier: Der letzte Film wird in Schottland spielen. Bevor ich mich aber da an die Arbeit mache, warte ich besser darauf, bis sich Schottland von Grossbritannien abspaltet. (lacht) Aber vielleicht mache ich ja auch einen Film über ein anderes Thema. Ich lasse es auf mich zukommen.

Diese Europa-Saga hat noch gar keinen offiziellen Titel. Spätestens für eine Blu-ray-Box braucht du einen. Hast du da schon Ideen?

Lionel Baier: Eine sehr gute Frage. Ich mache es davon abhängig, wie Europa in zehn Jahren dasteht. «This was Europe» oder «Europe, My Love» wären gute Titel. Aber ich möchte festhalten, dass ich die Europäische Union für eine grossartige Sache halte. Es ist eines der friedlichsten Projekte, die je auf dem Kontinent gestartet wurden. Vor allem, wenn man bedenkt, wie verfeindet zum Beispiel Deutschland und Frankreich in der Vergangenheit waren, ist das schon aussergewöhnlich.

Ursina, hast du noch Ideen für einen Titel?

Ursina Lardi: Mir gefallen «Good old Europe», «Goodbye Europe» und «Europe, My Love».

Wie viele dumme Witze habt ihr euch wegen dem «Ice Age»-Franchise anhören müssen, deren vierter Teil auch «La dérive des continents - Contentinal Drift» heisst?

Lionel Baier: (lacht) Nicht so viele, wie man denken könnte. Wir mussten es aber natürlich abklären, ob wir diesen Titel überhaupt verwenden dürfen, ohne später Ärger zu bekommen. Aber da es ein geologischer Begriff ist, sind wir sicher.

La dérive des continents (au sud) läuft ab dem 2. Februar 2023 in den Deutschschweizer Kinos.

© Pathé Films AG

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Chris Schelb [crs]

Chris arbeitet seit 2008 für OutNow und leitet die Redaktion seit 2011. Seit er als Kind in einen Kessel voller Videokassetten gefallen ist, schaut er sich mit viel Begeisterung alles Mögliche an, wobei es ihm die Filmfestivals in Cannes und Toronto besonders angetan haben.

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