«Netflix hat überall seine Finger im Spiel!» - Das Interview mit der «The Witcher»-Showrunnerin Lauren Schmidt Hissrich

Was macht Netflix anders? Und warum haben Serien auf Streamingdiensten keinen Vorspann mehr? Showrunnerin Lauren Schmidt Hissrich weiss die Antworten und erzählt, wie sie für «The Witcher» castete.

Lauren Schmidt Hissrich bei der Londoner Premiere von «The Witcher - Season 2». © StillMoving.net for Netflix

Lauren Schmidt Hissrich ist die überaus engagierte Kraft hinter der Netflix-Serie «The Witcher». Die Autorin hat einen langfristigen Vertrag beim Streamingdienst unterschrieben, der eine ganze Reihe von Serien und Filmen umfasst. Ein Anime ist bereits verfügbar. Mit The Witcher: Blood Origin startet 2022 ein Prequel. Es soll sogar eine Zeichentrickserie für Kinder geben. OutNow traf die Produzentin zum Video-Call.

Andrzej Sapkowskis Welt ist sehr umfangreich. Wie kreierte man eine komplexe Serie wie The Witcher, wenn die Romanvorlage einen ganzen Fundus an Figuren, Orten und Beziehungsgeflechten vorgibt?
Es gab in der Tat eine riesige Landkarte im Writers' Room. Man sieht das lederne Ding in der siebten Folge der ersten Staffel, wenn alle Mages (Hexenmeister Anm. d. Red.) sich darüber beugen. Wir hatten Stammbäume und vor allem für Staffel 1 komplizierte Zeitachsen, die sich über ganze Wandtafeln erstreckten. All dies muss man dann aber auch ignorieren können, um die bestmögliche Geschichte zu erzählen. Gute Fantasy ist immer detailreich. Aber wir wir mussten in acht Fernsehstunden auf den Punkt kommen. Da bleibt wenig Zeit fürs Magie-Regelwerk oder politische Ränkespiele. Das muss organisch wachsen.

Was bedeutet das für dich als Autorin?
Man muss im Hinterkopf haben, in welcher Beziehung Ciri zu Lara Dorren steht, oder dass man von Cintra nach Brokilon nicht innerhalb eines Tages reisen kann. Die Herausforderung dann besteht darin, wann man dieses Wissen der Zuschauerin auftischt. Man darf nie zu viel Fleisch am Knochen haben, darf ihr aber auch nicht alles auf einmal auf den Teller plumpsen lassen. Es braucht immer ein Fundament, auf dem die erzählte Geschichte aufbauen kann.

Ciri (Freya Allen) und Geralt (Henry Cavill) sind nur zwei der Protagonisten innerhalb der umfangreichen Welt von «The Witcher».
Ciri (Freya Allen) und Geralt (Henry Cavill) sind nur zwei der Protagonisten innerhalb der umfangreichen Welt von «The Witcher». © Netflix

Die The Power of the Dog-Regisseurin Jane Campion verglich Netflix mit den Medici, der reichen Mäzen-Dynastie aus dem 16. Jahrhundert.
Ich war erst vor kurzem zum ersten Mal in Italien für das Festival Lucca Comics & Games. Ich kenn darum die Medici nicht wirklich. Netflix hat aber überall seine Finger im Spiel. Es gibt mehrere lokale Produktionen - aus Indien, Italien, Spanien oder dem Nahen Osten, von denen ich in Los Angeles nie gehört habe. Es ist grossartig, dass die Welt heute nicht mehr nur Content aus dem englischsprachigen Raum registriert.

Und da hat Netflix Einfluss drauf?
Man redet oft von der globalisierten Unterhaltungsbranche. Netflix versteht, dass in den Weltregionen unterschiedliche Geschmäcker adressiert werden. Auch The Witcher musste in Märkten funktionieren, die nicht US-basiert sind. Vielerorts kannte man das Franchise nicht. Die Bücher wurden in Amerika erst zu Bestsellern nach dem Release der TV-Serie. Das verändert die Art und Weise, wie wir Geschichten entwickeln.

Ist das der grosse Unterschied zur Arbeit für einen US-TV-Sender, wie du es bei Private Practice und Parenthood kennen gelernt hast?
Beim linearen Fernsehen in den USA sagen sie dir genau, für wen das Programm hergestellt werden muss. Zum Beispiel: Dein Publikum ist zwischen 18 und 49 Jahren und lebt in den Ballungszentren. Dann darf man etwas gewagter sein in den Themen. Oder umgekehrt: Man schreibt für die Kleinstadt und muss ländlichere Gepflogenheiten berücksichtigen. Das war und ist aber immer USA-zentriert. Man schreibt quasi für die Leute, mit denen man aufgewachsen ist. Die Amis sind aber nicht die wichtigsten Zuschauer. Der Welt muss weiter gefasst werden. Das hat meine Schreibarbeit enorm verändert.

Das wirkt sich dann auch darauf aus, wie oft man das F-Wort hört in den The Witcher.
Richtig! Eins der Lieblingswörter von Geralt.

Henry Cavill schwingt sein Schwert als Monsterjäger und Mutant Geralt von Riva in «The Witcher».
Henry Cavill schwingt sein Schwert als Monsterjäger und Mutant Geralt von Riva in «The Witcher». © Netflix

Ist es im Zeitalter der Streaming-Goldgräber-Stimmung schwieriger, talentierte Kreative zu finden?
Die unzähligen Serien, mit denen die Leute ihre Zeit verbringen können, ist einschüchternd. Aber gerade weil die Unterhaltungs-Konzepte so eng gefasst waren, gibt's haufenweise begabte Personen, die bisher nicht berücksichtigt wurden. Vor und hinter der Kamera erstrahlen Talente, die bisher den Fuss gar nicht in der Tür hatten. Aus Autorinnen-Perspektive gesprochen, werden heute ganz andere Stimmen erhört. Und es gibt einen Markt dafür.

Du hast einen langfristigen Vertrag mit Netflix unterschrieben. Nimmt man da seine Gschpänli von früher mit in die neuen Projekte?
Ich bin einerseits sehr loyal zu Leuten, mit denen ich meine Reise begonnen habe. Andererseits hatten wir auch Glück mit der Filmcrew, die so gerne für das Projekt arbeitet, dass sie bei der zweiten Staffel wieder dabei sein wollten, um neue kreative Chancen zu ergreifen. Weil die The Witcher-Welt expandiert, durften wir für den Anime-Film The Witcher: Nightmare of the Wolf auch mit Südkoreanern zusammenarbeiten. Die wachsende Anzahl Projekte bringt neben den Alteingesessenen immer neue Leute an Bord. Das macht Spass.

Wie überzeugt man "Superman" Henry Cavill für die Rolle des Geralt von Riva?
Henry ist ein Riesenfan der The-Witcher-Computerspiele. Wie die Irren kontaktierte seine Entourage Netflix, als bekannt wurde, dass aus den Games eine TV-Serie werden sollte. Netflix bat mich deshalb, mit Cavill zusammenzusitzen. Dabei hatte mich noch gar nicht mit der Figurenzeichnung befasst und musste ihm ehrlich gestehen, dass es noch nicht einmal ein Drehbuch gab. Ich verstünde aber seine Leidenschaft.

Kannte er die Bücher von Andrzej Sapkowski da bereits?
Cavill erfuhr erst durch mich von der polnischen Romanvorlage. Die las er dann auch sofort in einem Stück durch, während ich begann, im Writers' Room die Serie zu Papier zu bringen. Henrys Stimme ging mir dabei nicht mehr aus dem Kopf. Und obwohl wir dann über 200 Männer casteten für die Rolle, war mir, der Regie und der Casterin klar, dass wir Geralt gefunden hatten, als Henry dann nochmals richtig vorstellig wurde.

Anya Chalotra darf auch in der zweiten Staffel von «The Witcher» wieder ran als Yennefer.
Anya Chalotra darf auch in der zweiten Staffel von «The Witcher» wieder ran als Yennefer. © Netflix

Weshalb ist Anya Chalotra die perfekte Yennefer?
Wir brauchten eine Person für die Rolle, die Verletzlichkeit und Kampfgeist vereint, um sie in eine äusserlich wunderschöne Magierin zu verwandeln, die in ihrem Innern Leere verspürt. Dafür haben wir ganz viele Schauspielerinnen eingeladen. Beim Recall musste Anya einen wurmstichigen Apfel essen. Als Teil ihres Auftritts spuckte sie die angebissene Frucht - über den ganzen Boden verteilt - aus. Danach bedankte sie sich artig, und ging auf die Knie, um die Apfelstücke zum Wegschmeissen eigenhändig einzusammeln. Das drückte viel aus über Anja - und gleichzeitig verkörperte sie in diesem Moment für mich die Rolle der Yennefer in all ihren Facetten: Den echten, wütenden Ekel über das vergammelte Obst in ihrem Mund, und sich gleichzeitig nicht zu schade zu sein, selber zu putzen.

Was The Witcher fehlt, ist eine prägnante Titelmelodie und ein richtiger Vorspann!
Darüber haben wir lange diskutiert. Ich war hin- und hergerissen. Ich persönlich bin eine Fürsprecherin. Game of Thrones ist das perfekte Beispiel. Dieser Vorspann brachte einen in Stimmung, und er wurde sogar immer wieder leicht modifiziert mit dem Gang der Handlung. «GoT» wurde aber wöchentlich ausgestrahlt. Man musste die nötige Laune deshalb immer wieder neu hervorkitzeln. Bei Netflix bingt man die Episoden innerhalb eines Wochenendes. Die Leute schauen vier Folgen am Stück und überhüpfen die Titel ab dem zweiten Mal sowieso. Warum also einen gestalten, wenn ihn dann sowieso niemand schaut beim Durchsuchten.

Roland Meier [rm]

Roland sammelt 3D-Blu-rays, weil da die Publikationen überschaubar stagnieren, und kämpft im Gegenzug des Öfteren mit der Grenze der Speicherkapazität für Aufnahmen bei Swisscom blue TV. 1200 Stunden Film und Fernsehen ständig griffbereit sind ihm einfach nicht genug.

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Kommentare Total: 2

goe

Richtig toll geschrieben! Bei einer Sache bin ich mir (noch) nicht ganz sicher. «Witcher» hat ja einen Titelsong, welcher halt nur noch nicht im Titel vorkommt. «Toss a coin to your witcher», ein Ohrwurm des Barden Rittersporn. Da wäre es natürlich interessant, Diesen Song als Titelmelodie zu verwenden.

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