Das Tiff-Tagebuch, Tag 8 - Einhorn

Bewundernswert oder einfach nur verrückt? Wir haben gestern sechs Filme geschaut. Hintereinander. Hier die Ausführungen zum Monster-Festivaltag. Achtung! Nichts für schwache Nerven.

Stimmung: Frodo am Mt. Doom
Film Count: 40.5
Stunden geschlafen: Was ist Schlaf?
Anzahl Kaffees: 2 Millionen Liter

Ein verantwortungsvoller Filmjournalist schaut an einem Festival im Schnitt zwei bis drei Filme pro Tag. So bleibt genug Zeit für Reviews und andere Dinge. Vier Filme sind machbar, lassen aber wenig Zeit zum Verarbeiten. Nach fünf Filmen ist man meist so erschöpft, dass man sich nicht mal mehr an die Namen der Filme, die man den Tag durch gesehen hat, erinnern kann, oder den der eigenen Grossmutter. Sechs Filme? Logistisch zwar machbar, aber nur schwer durchführbar. Es kommt immer was dazwischen. Ob es ein feines Steak, der eigene Kopf, die Arbeit oder eine unerwartete Änderung des Screeningplanes ist - nach 5 Filmen ist meist Schluss. Dieses Jahr zum Beispiel, hatten wir vier Tage eingeplant, an denen wir sechs Filme schauen wollten. Bis gestern haben wir es nur auf fünf gebracht und die Nummer sechs blieb bis dahin ein Fabelwesen.

Ihr fragt euch vielleicht, weshalb diese Zahl so erstrebenswert ist. Der eifrige Cineast meint hier, dass man eben so viele Filme schauen möchte wie nur irgendwie möglich. Wegen Kunst. Und kultureller Bereicherung. Wir aber sind Kindsköpfe. Hier geht es mehr darum, sagen zu können: «Boah, Hansli*, ich han hüt sächs Film gschafft imfall! IN YOUR FACE!». Das ist also sozusagen das Filmkritikeräquivalent des Penisvergleichs (haha ich hab' Penis geschrieben. Zwei Mal. Im Internet.). Ein Ritterschlag des Filmenthusiasten und Festivalneulings. Mit sechs Filmen hat man nämlich ALLES gesehen. Und das kam so:

Room
Dauer: 151min - gefühlt: 90min
Als erster Film gab's mit Room ein feinfühliges, intensives Drama über Entführung, langjährige Gefangenschaft. Ich hatte mich schon seit Monaten darauf gefreut. Die Spannung allein (plus Kaffee) machte das Screening sehr kurzweilig.

Desierto
Dauer: 94min - gefühlt: 100min
Nach der ersten Hälfte des Filmes macht sich die erste Müdigkeit breit. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich nach dem Film noch vier weitere schauen werde. Zum ersten Mal hinterfrage ich meine Vernunft. Und hoffe das die anderen Filme nicht bloss von armen Mexikanern handeln, die von einem bösen Amerikaner wie Kaninchen abgeknallt werden. Meine Wut über den Sachinhalt hält mich davon ab, mich über die Story zu langweilen.

Anomalisa
Dauer: 90min - gefühlt: 100min
Der leichte Ton und die sporadischen Animationssexszenen machen den eigentlich nervigen Film doch noch einigermassen kurzweilig. Wo sieht man schon so explizite Szenen in einem Animationsfilm? Die eigentlich interessante Prämisse hält zudem mental bei der Stange. Obwohl man am Ende froh ist, dass der Film vorbei ist, langweilt man sich nicht.

Whispering Star
Dauer: 110min - gefühlt: 200min
Hier muss man sich ständig daran erinnern, dass man an einem Filmfestival ist und es da eigentlich normal ist, auch mal einen Ultra-Porno-Arthouse-Streifen zu erwischen. Auch wenn es sich dabei um eine Space-Oper handelt, die so krankhaft langsam ist, dass so ungefähr die Hälfte des Kinosaals am Schlafen ist. Die wunderschönen Bilder sind ein schwacher Trost. Ich weiss nicht, ob ich mich mehr langweile oder über den Film nerve. Ich schaue ungefähr alle zwei Minuten auf mein Handy und beginne über Kunst vs. Unterhaltung zu philosophieren. Das steht mir überhaupt nicht. Ich bin sauer.

The Missing Girl
Dauer: 89min - gefühlt: 120min
Gähn… Zum Glück gibt's bald was zu essen.

Hardcore
Dauer: 90min - gefühlt: 150min
Wir betreten den Kinosaal und nehmen gemütlich unsere Lieblingsplätze in der dritten Reihe ein. Das ist nahe bei der Leinwand und man kann mit dem Sitz trotzdem unbesorgt zurücklehnen. Sobald wir Platz genommen haben, kommt eine besorgt aussehende Tiff-Mitarbeiterin auf uns zu. Sie müsse uns warnen. Bei anderen Screenings sei vielen Zuschauern in den vorderen Reihen so schlecht geworden, dass sie das Screening hätten verlassen müssen. Wir lachen. Pussys! Doch schon nach zehn Minuten bereue ich mein Lachen. Hardcore ist die 1:1-Adaption eines blutrünstigen Videogames auf die grosse Leinwand. Ich bin begeistert. Nur wird mir wegen der Wackelkamera so schlecht, dass ich schon nach 20 Minuten anfange auszurechnen, wie lange ich es noch aushalten müsste, damit ich den Film trotzdem noch als «Nummer Sechs» durchgehen lassen kann. Ich beschliesse 75 Minuten. Muss allerdings alle paar Minuten wegschauen. Und Wasser trinken. Nach 75 Minuten bin ich so mit Adrenalin vollgepumpt, dass ich fast im Kinositz wie ein Gummiball auf und ab hüpfe. Ich schaffe es bis ans Ende. Mehr oder weniger heil. Ich fühle mich etwas hirngeschädigt. Keine Ahnung ob das die sechs Filme waren oder einfach nur der letzte. Was auch immer: HARDCORE!

*Name von der Redaktion geändert

Chris Schelb [crs]

Chris arbeitet seit 2008 für OutNow und leitet die Redaktion seit 2011. Seit er als Kind in einen Kessel voller Videokassetten gefallen ist, schaut er sich mit viel Begeisterung alles Mögliche an, wobei es ihm die Filmfestivals in Cannes und Toronto besonders angetan haben.

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