Home: Interview mit Ursula Meier

Schon seit etlichen Monaten bereist die 37-jährige Franko-Schweizerin Ursula Meier nun die Welt und spricht über ihren Erstlingsspielfilm Home - mittlerweile auch mit der Gewissheit, dass der Film beim Publikum und der Presse sehr gut ankommt. Dass sie gewisse Fragen nun schon zum geschätzten hundertsten Mal beantwortet, merkt man ihr allerdings nicht im Geringsten an - sie spricht motiviert, ausführlich, engagiert, wortgewandt und höchst leidenschaftlich über ihr neues Werk, und sie gebraucht dabei öfters auch ihre Hände. Wieviel Kraft sie in ihren Film gesteckt hat, war bereits bekannt - mit wieviel Feuer sie nun aber darüber kommuniziert, das ist eine wunderbare Überraschung. Die Meiersche Energie lässt sich übrigens anhand einer einfachen Zahl exemplifizieren: Das hier wiedergegebene Gespräch dauerte nicht länger als zwölf Minuten.
OutNow.CH (ON): In deinem Film Home setzt du eine Famile einer plötzlich eintretenden Belastung aus. In anderen Filmen wachsen Familien durch äussere «Bedrohungen» stärker zusammen, oder es passiert das genaue Gegenteil, sie werden - wie zum Beispiel in Pasolinis Teorema - durch einen Störfaktor vollends zerschlagen. Bei dir verläuft das alles aber viel ambivalenter…

Ursula Meier (UM): Stimmt, und es freut mich, dass Du Teorema erwähnst, denn ich habe tatsächlich viel an diesen Film gedacht, als ich Home geschrieben habe. Ich mag diese Figur, die da auf wundersame Weise mit ihrer ganzen Schönheit in eine Familie eindringt und dort das totale Chaos veranstaltet. Aber um auf die Frage zurückzommen: Ja, der Film versucht beide Seiten des Phänomens zu sehen. Auf der einen Seite haben wir eine Familie, deren Mitglieder sich unglaublich stark lieben, und die davon ausgehen - vor allem die Mutter, gespielt von Isabelle Huppert - dass ihre Liebe, ihr Glück, stärker sein werden als diese Autobahn - und damit auch stärker als die Welt.
Für mich ist die Eröffnung dieser Autobahn nämlich metaphorisch gemeint für eine laute, aggressive, verschmutzende Welt, vor der diese Familie eigentlich hat fliehen wollen, und von der sie nun wieder eingeholt wird. Die Familie hat sich aus dieser Welt verabschiedet und ist der Mutter in die Isolation gefolgt, weil sie auf der Suche nach einem verlorenen Glück war, und dieses Glück und diese Liebe findet sie ja dann in der Abgeschiedenheit auch wieder - vielleicht fast zu viel davon. Als sie nun aber mit dem Verkehr vor der Haustür konfrontiert wird, fusioniert die Familie, sie wird zu einem Block. Sie will gemeinsam stärker sein als die Autobahn, aber das geht natürlich nicht - man kann nicht einfach mit Liebe gegen die Welt ankämpfen und gewinnen. Eine schöne Idee, aber utopisch.
ON: Es geht in dem Film sehr stark um familiäre Beziehungen, um Psychologie. Aber gleichzeitig ist der Stil des Films alles andere als psychologisierend.
UM: Genau, es ging mir ja auch vor allem um die metaphorische Geschichte um eine Familie in der modernen Welt, und da wollte ich nicht psychologisierend wirken, sondern alles so zugänglich wie möglich gestalten. Gleich zu Beginn ist man ja unmittelbar mit den Figuren dabei am Rand dieser verlassenen Autobahn und kann sehen, wie sie dieses Terrain als eine fantastische Spielweise benutzen, wo sie Rollschuhskaten und Fahrrad fahren können, Hockey spielen, Heavy Metal hören, endlos Krach machen - eine Art Paradies also, ein fantastischer Ort.
ON: Sprechen wir doch gleich von diesem fantastischen Handlungsort. Wo hast du dieses Haus und diese stillgelegte Autobahn gefunden?

UM: Wir haben tatsächlich ganz Europa abgegrast, wir waren selbst in Kanada, weil das Filmprojekt dort auf offene Ohren stiess, aber ein geeigneter Drehort war nicht auszumachen. Neu gebaute Autobahnstücke werden meist sehr schnell für den Verkehr freigegeben, sobald die Baufahrzeuge verschwunden sind - dazwischen liegt keine Zeit für Dreharbeiten. Ausserdem standen überall Autobahnbrücken, und die wollte ich auf keinen Fall im Bild, denn es geht im Film ja darum, dass die Familie durch den Verkehr von der Umwelt abgeschnitten wird und erfinderisch sein muss, wenn sie die Strasse überqueren will. Also haben wir uns stattdessen die Lande- und Startpisten von Flughäfen angeschaut. Aber auch da hatten wir ein Problem: Die waren alle zu kurz, denn die im Film vorbeirasenden Fahrzeuge mussten ja auf 120 km/h beschleunigen, bevor sie ins Bild kamen, und unmittelbar danach wieder abbremsen - zu langsam fahrende Autos wären im Film aufgefallen - und sowas ist auf so kurzen Strecken einfach zu gefährlich. Ausserdem stimmte im Umfeld der Flughäfen auch die Landschaft nicht, diese kahlen Grasböden waren mir zu hässlich. Fündig geworden sind wir schliesslich im hintersten Bulgarien, zwischen Sofia und Istanbul. Dort stiessen wir auf eine völlig verlorene Landstrasse, die über zwei Kilometer hinweg verbreitert worden war, damit dort Flugzeuge zur Bewässerung der umliegenden Felder starten und landen konnten. Diese Einrichtung wurde aber nicht mehr gebraucht, und das Gelände war verlassen - alle drei Stunden kam vielleicht ein Trabant oder ein Pferd vorbei, und die konnte man problemlos umleiten. Auf diesem Gelände haben wir dann das Haus gebaut, die ganzen zwei Kilometer Strasse neu geteert und mit Sicherheitslinien bemalt, und diese Strecke wurde dann für gewisse Szenen von bis zu 300 Autos mit Statisten befahren. Es war also wie ein Riesenstudio unter freiem Himmel, wir hatten unser Haus, unsere Strasse unsere Fahrzeuge. Wenn ich «Moteur!» rief (was auf französisch soviel heisst wie: «Action!»), dann wurden tatsächlich die Motoren gestartet, und wir erlebten bis zu einem gewissen Grad auch das, was die Familie im Film durchmacht.
ON: Wie hat sich dieses ausserordentliche Set auf die Arbeit mit den Schauspielern ausgewirkt? Dazu muss man auch sagen, dass hier zwei Vollprofis in den Elternrollen mit drei Anfängern in den Kinderrollen agieren.

UM: Es war eine eigentümliche Erfahrung für uns alle, selbst Isabelle Huppert hat wahrscheinlich noch nie einen derart bizarren Dreh erlebt, wo einerseits 300 Fahrzeuge auf Abruf durchstarten, und wo andererseits in der Gegend eine totale Stille herrscht, eine perfekte Stille, wie man sie in Frankreich oder in der Schweiz gar nicht mehr findet. Damit die Darsteller trotzdem agieren konnten, wie wenn der Lärmpegel konstant hoch wäre, spielte der Tonmann Luc Yersin bei den Proben für die Innenaufnahmen ohne die fahrenden Statisten jeweils mit Lautsprechern laute Fahrzeuggeräusche ein, damit sich die Schauspieler das Rufen und Schreien angewöhnen konnten. Die Zusammenarbeit zwischen Isabelle Huppert und Olivier Gourmet und den Debütanten verlief übrigens hervorragend - Kasey Mottet Klein zum Beispiel, der Darsteller des kleinen Jungen, war beim Dreh gerade mal acht Jahre alt. Damit das klappte, habe ich mit den Kindern bereits sechs Monate vor den Dreharbeiten mit den Proben begonnen. Wir haben in dieser Phase vor allem am Text gearbeitet - talentiert, begabt und locker vor der Kamera waren sie bereits, sonst hätte ich sie ja an den Castings nicht ausgesucht - und da musste ich etwa, vor allem bei Kasey, aufpassen, dass er den Text natürlich spricht und nicht rezitiert. Ich habe habe ihm beigebracht, auf sich selbst zu hören, ihm Aufnahmen von den Proben vorgespielt, damit er möglichst schnell von allein merkte, wann er gut war und wann nicht - und vor allem, wo der Unterschied lag zwischen einem rezitierten und einem auf natürliche Weise gesprochenen Text. Statt ihn zu infantilisieren und ihn einzuschüchtern, habe ich ihn für voll genommen und ihn vorbereitet auf die Begegnung mit Huppert und Gourmet, und der Funke ist dann auch gesprungen. Die Kinder wussten ja auch gar nicht, mit was für Filmgrössen sie da zusammen spielten - zum Glück, denn sonst wäre es eventuell nicht so reibungslos abgelaufen.
ON: Der Film ist bereits vor einer Weile in den französischsprachigen Regionen gestartet, jetzt kommt er in die deutsche Schweiz. Hast du das Gefühl, dass der Film hier anders wahrgenommen wird als in französischsprachigen Regionen?
UM: Überhaupt nicht, nein. Der Film ist ja schon in Italien gestartet, in Kanada, in Frankreich, in Belgien und jetzt kommt er in die Deutschschweiz, was mich ganz besonders freut, weil ich ja Zürcher Wurzeln habe. Die deutschsprachigen Journalisten scheinen den Film zu mögen, die Zeichen stehen gut. Der Film hat ja auch ein recht universelles Thema, und in allen Ländern, in denen ich ihn vorstelle, wird er auf eine ähnliche Weise verstanden. In allen westlichen oder verwestlichten Ländern gibt es dieses Problem, diesen Willen, fernab von der Welt in Frieden zu leben und trotzdem nicht auf die Vorteile der modernen Gesellschaft wie Schnelligkeit, Autobahnen und Flugzeugen verzichten zu wollen. Und da gibt es nun einmal eine Grenze, denn man kann halt nicht einfach alles haben. Diese Botschaft des Films verstehen die Menschen in allen Ländern gleich, und auch dieses Bild der Familie als letzte Gemeinschaft, an die man sich klammert, wo man Liebe sucht. Das spürt man heute sogar noch viel stärker - vor ein paar Jahren bezeichneten die meisten Menschen die Arbeit, die Selbsterfüllung als den wichtigsten Aspekt ihres Lebens, heute ist es die Familie. Dabei gab es noch nie so viele Scheidungen, Trennungen und Scheidungskinder… Das kann man schon beängstigend finden. Daher kommt auch dieses Bild der Familie, die meint, ihre Liebe sei stärker als die Welt, und die sich dabei irrt. Die Autobahn bleibt ja eine Art Parallelwelt, eine reine Projektion der Ängste und Neurosen der Figuren, und das macht den Film universell - es ist nicht ein anekdotischer Film über eine Familie am Autobahnrand, sondern ein radikales Bild über die heutige Welt, das überall verstanden wird. Vom Deutschschweizer Publikum habe ich bis jetzt noch kein konkretes Feedback, weil die Vorpremiere hier in Zürich erst noch stattfindet, aber ich bin gespannt!

ON: Du bezeichnest Dein Familienbild als universell. Mir kommen da speziell die USA in den Sinn, wo die Familie sehr stark idealisiert wird, wo es für viele Menschen enorm wichtig ist, verheiratet zu sein und Kinder zu haben - sei es für den sozialen Status oder für das persönliche Glück. Wie stellst du dir eine potenzielle «amerikanische» Reaktion auf dein doch recht düsteres Bild vor?
UM: Ich bin mir sicher, dass das Thema die Amerikaner interessieren wird - ich glaube, wir haben den Film bereits dorthin verkauft. Mein vorheriger Film Die Sprinterin erhielt eine sehr gute Kritik in der New York Times. Eine Hauptaussage dieses Films war gewesen, dass es nicht immer nur ums Gewinnen oder Verlieren geht, und das wurde im sonst eher wettbewerbsgläubigen Amerika erstaunlich gut verstanden. Auch Home wird die Amerikaner stark beschäftigten, denn der Film demontiert ja diese typisch amerikanische Vorstellung eines Haushalts, dieses idyllische Bild der Familie als Hafen des perfekten Glücks. Das ist sowieso eine stark verzerrte Vorstellung, die ich ziemlich erschreckend finde.
ON: Findest Du Familien denn prinzipiell etwas Erschreckendes?

UM: Nein, denn ich verdanke meiner Familie ja wahnsinnig viel; ich wäre nicht zum Film gekommen, wenn ich nicht diese Schwester und diese Eltern gehabt hätte. In der Familie baut man sich auf und schöpft Energie, aber es bedeutet auch einen Aufbruch, die ersten Neurosen - was ich übrigens als einen schöpferischen Prozess betrachte. Und gleichzeitig kann es natürlich erstickend sein: Man muss sich seinen eigenen Platz erkämpfen, man muss herausfinden, wer man selbst ist, und was man mit seinen ganzen Ängsten und Neurosen macht. Wenn ich solche Dinge verarbeite, dann wird das halt zur schwarzen Komödie - das ist meine persönliche Art, über das Thema «Familie» zu sprechen. Ich will nicht psychoanalytisch darüber schreiben, meine Figuren führen keine psychologisierten «Ich liebe Dich / Ich liebe Dich nicht»-Dialoge, sondern sie handeln ganz einfach, sie lieben sich, und sie treiben sich mit ihrer Liebe sogar in den Wahn.