Behind the Glass (2025)

Behind the Glass (2025)

Filmkritik: I Want to Break Free!

60. Solothurner Filmtage 2024
«Söttsch mal wider zum Coiffeur, di Asatz…!»
«Söttsch mal wider zum Coiffeur, di Asatz…!» © Studio / Produzent

Anna (Daria Egorkina) und ihre 15-jährige Tochter Lena (Aurélija Pronina) leben in Lettland. Die Beziehung der beiden ist angespannt. Lena befindet sich in einer rebellischen Phase, in der sie lieber Zeit mit ihrer gleichaltrigen besten Freundin Karina (Alexandra Vlasko) verbringt. Die beiden Mädchen machen Party, schwänzen die Schule und sind auch Alkohol und Drogen nicht abgeneigt.

Bei einer jener Feiern konsumieren sie eine harte Droge, was Karina das Leben kostet. Aber auch Lena ist in Gefahr. Die Typen, die den Mädchen die Drogen gegeben haben, wollen nichts mit dem Tod von Karina zu tun haben. Als Anna auch noch mit einer Schusswaffe bedroht wird, flüchtet sie mit ihrer Tochter kurzerhand in die Schweiz zu Bekannten. Hier versuchen sie, Fuss zu fassen und zu warten, bis sich die Sache beruhigt. Dabei treffen sie auf André (Marcus Signer), der sich um die beiden zu kümmern scheint.

Mit zwei unterschiedlichen Ausgangslagen kämpft das Drama Behind the Glass und schafft es in der zweiten Hälfte nicht mehr, an die emotional aufgeladene erste Hälfte anzuschliessen. Die Entfremdung zwischen Mutter und Tochter weicht einem Abarbeiten von Programmpunkten und lässt Dialoge wie auch Gefühle drastisch abkühlen. Positiv fällt neben den beiden Hauptakteurinnen die Bildsprache des Films auf.

Das Coming-of-Age-Drama von Olga Dinnikova befasst sich mit einem örtlichen und kulturellen Perspektivenwechsel. Zu Beginn in Lettland lebend, müssen die beiden Protagonistinnen aus ihrem gewohnten Umfeld weg und geraten in ein ihnen unbekanntes Umfeld, das grosse Unterschiede zu ihrem Heimatort offenbart.

Etwas plakativ, aber trotzdem glaubhaft zeigt der Film Rigas heruntergekommene Ecken: Plattenbauten, beengte Wohnungen und dreckige Clubs. Im krassen Kontrast dazu steht das gutbürgerliche Leben in einem Schweizer Vorort. Dinnikova spielt mit diesen Gegensätzen und unterschiedlichen Lebenswelten. Diese fühlen sich manchmal lebensnah und realistisch, streckenweise aber doch sehr konstruiert an. Riga, Drogen und Party entfalten dabei eine ganz andere Wirkung als die neue, überschaubare Existenz in der Schweiz, wenn die Dialoge abgehackt und brüchig in Englisch daherkommen.

Wesentlich näher an der Realität, lassen die Mutter-Tochter-Szenen in Lettland mit all ihren Konflikten stärkere Emotionen zu. Dass sich die beiden Frauen gefühlstechnisch schon längst entfremdet haben, vermittelt die junge Hauptdarstellerin Aurélija Pronina. Als Tochter rebelliert sie, geht ihren eigenen Weg und bietet ihrer Mutter mit arktischer Kälte Paroli - ein richtiger Teenie eben. Mit eiserner Miene, übermüdeten Augen und trotzigen Antworten macht sie klar, dass eine emotionale Annäherung von Mutter und Tochter utopisch wäre.

Doch auch Daria Egorkina als besorgte Mutter spielt ihre Rolle glaubhaft. Lediglich Marcus Signer hat - für einmal - eine Rolle inne, die ihn nicht brillieren lässt. Zu versteift und wenig authentisch wirkt sein dargestellter Charakter. Und dies stellt dann auch das grösste Problem von Behind the Glass dar: Die Story-Parts in Riga und der Schweiz halten qualitativ nicht zusammen. Sie wirken klischiert und erzwungen in ihrem Ablauf. Plötzlich weichen die starken, emotionalen Szenen seltsamen Gesprächen und Handlungen, die Geschichte wird lesbar. Nun führen weniger die emotionalen Momente durch das Drama, sondern der Film hakt einzelne Programmpunkte ab.

Optisch besticht Behind the Glass hingegen durch ästhetisch-reale Bilder von Lettlands Stadtteilen, die touristisch nicht die höchstfrequentierten sein dürften. Die durch die Story erzählte Tristesse trägt der Film visuell sehr schön ans Publikum heran.

Yannick Bracher [yab]

Yannick ist Freelancer bei OutNow seit Sommer 2015. Er mag (Indie-)Dramen mit Sozialkritik und packende Thriller. Seine Leidenschaft sind Filmfestivals und die grosse Leinwand. Er hantiert phasenweise noch mit einem Super-8-Projektor und lernt die alten Filmklassiker kennen und schätzen.

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