Rapito (2023)

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Filmkritik: Kirche, katholisch, kriminell

76e Festival de Cannes 2023
Beim Schossgebet.
Beim Schossgebet. © Kavac Film & IBCmovie

Bologna im Jahr 1858: Eines Nachts kreuzen Kirchenmänner auf bei der jüdischen Familie von Mormolo (Fausto Russo Alesi) und Marianna (Barbara Ronchi) Mortara. Einer deren Söhne, Edgardo, sei vor einigen Jahren heimlich getauft worden, behaupten die Geistlichen. Sie seien deshalb gezwungen, ihn mit sich zu nehmen, um ihn den katholischen Glauben zu lehren. Die heftige Gegenwehr der beiden nützt nichts: Der sechsjährige Junge kommt fortan in die Obhut der katholischen Kirche, die ihn nach Rom am Hof des Papstes in die Klosterschule steckt.

Doch so einfach geben Mormolo und Marianna ihren Sohn nicht auf. Sie versuchen mit allen Mitteln, ihn zurückzugewinnen, und scheuen auch den Gang an die Öffentlichkeit nicht. So gerät die Geschichte vom Kidnapping eines Jungen durch die katholische Kirche international in die Schlagzeilen und setzt auch den Papst Pius IX (Paolo Pierobon) unter Druck. Doch ist dieser nicht bereit, den Jungen wieder herzugeben und will damit auch für die Zukunft ein Exempel statuieren.

Die Kirche als kriminelle Organisation: Marco Bellocchio erzählt mit Rapito die Geschichte eines Entführungsfalls aus dem 19. Jahrhundert, der bereits damals international für Aufsehen sorgte. Aufsehen erregen möchte zweifellos auch dieser Film, und er tut es mit einer schrillen, nervösen und mit über zwei Stunden auch überlang geratenen Inszenierung, die nie den Funken beim Publikum zu zünden vermag. Kirchenkritik in allen Ehren, aber dieser Film ist schlichtweg zu wenig pointiert.

Wenn Steven Spielberg mit einem Filmstoff in Verbindung gebracht wird, heisst das normalerweise etwas. Der berühmte Fall des Edgardo Mortara hätte ursprünglich schon 2017 vom berühmten Regisseur verfilmt werden sollen, ist dann aber auf die lange Bank geschoben wurden und soll laut aktuellem Stand 2026 in die Kinos kommen - wenn überhaupt.

«Lieber Spatz in der Hand als Taube auf dem Dach», scheint da der Italiener Marco Bellochhio gedacht zu haben und hat dieselbe Geschichte kurzerhand selbst umgesetzt. Doch leider krankt seine Verfilmung an allen Ecken und Enden. So ist sie furchtbar unfokussiert. Von Beginn weg ist nicht klar, welche Figur in diesem Film denn nun im Zentrum steht. Ist es - naheliegenderweise - der Entführte selbst, Edgardo Mortara? Sind es dessen Eltern, die um seine Rückkehr kämpfen? Oder ist es der Papst Pius IX, für den sich der Fall immer mehr zum Desaster entwickelt?

Bellocchios Antwort: Ja. Hauptfiguren sind alle und gleichzeitig niemand richtig. Dementsprechend wirr sind die Erzählweise und der Ton des Filmes; und damit ist auch die Musik gemeint. Diese kommt in einigen Szenen übermässig dramatisch-traurig wie in einer Liebesschnulze daher, dann wieder kreischend dissonant, wodurch sich der Film teilweise wie ein Psychothriller anfühlt. Dieser Mix an Stilelementen muss nicht per se schlecht sein, doch sind sie unsauber zusammengefügt, dass es von Seiten des Publikums schwer ist, einen Zugang zu der Geschichte zu finden.

Natürlich ist Rapito auch eine kritische Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche. Denn mit diesem Entführungsfall hat sich diese nicht mit Ruhm bekleckert - vorsichtig ausgedrückt. Weniger vorsichtig ausgedrückt: Sie hat damit ein Verbrechen begangen. Eine Steilvorlage für Atheistinnen und Kirchengegner. Doch verpufft die berechtigte Kritik irgendwo in diesem inszenatorischen Chrüsimüsi.

Positiv herauszuheben ist wenigstens Paolo Pierobon in der Rolle von Papst Pius IX. Wohl nicht ganz zufällig optisch ein wenig an den kürzlich verstorbenen Papst Benedikt XVI. erinnernd, verkörpert er seine Rolle als charismatisches, aber auch selbstgerechtes Kirchenoberhaupt, das langsam seine Felle davonschwimmen sieht. Schade, muss er sich durch einen solch fahrigen Film kämpfen. Vielleicht wird ja Steven Spielberg auf ihn aufmerksam, sollte dessen Projekt dereinst wieder aus der Versenkung auftauchen. Verdient hätte er es, und als Papst Pius wäre der Italiener sicher glaubwürdiger als Mark Rylance, der diese Rolle offenbar in der Ami-Version spielen soll.

Simon Eberhard [ebe]

Aufgewachsen mit Indy, Bond und Bud Spencer, hatte Simon seine cineastische Erleuchtung als Teenager mit «Spiel mir das Lied vom Tod». Heute tingelt er durch Festivals und mag Krawallfilme genauso wie Artsy-Farts. Nur wenn jemand einen Film als «radikal» bezeichnet, rollt er genervt mit den Augen.

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