Dass man heutzutage in der Schweiz durchaus offen über Sex reden kann, war in den vergangenen Jahren auch im Kino zu beobachten. Barbara Millers Dokumentation #Female Pleasure verzeichnete über 70'000 Ticketverkäufe, und auch Die goldenen Jahre, der zuvor als etwas lahme Rentnerkomödie abgetan wurde, überraschte mit einem erfrischend frechen und ehrlichen Umgang mit den Themen Body- und Sex-Life-Optimierung. Sabine Boss schlägt nun mit ihrem nicht minder unterhaltsamen Kammerspiel Die Nachbarn von oben in die gleiche Kerbe.
Es ist dabei eine Freude zuzusehen, wie sich Sarah Spale, Ursina Lardi, Roeland Wiesnekker und Maximilian Simonischek kleine Nickligkeiten an den Kopf werfen - bei dieser Besetzung könnte man glatt von der «Champions League der Schweizer Schauspielkunst» sprechen. Vor allem der Beginn gefällt, wenn der von Wiesnekker verkörperte Tom bünzlimässig zuerst lieber die Faust im Sack macht, bevor es dann aus ihm herausplatzt - und im Nachgang nicht nur bei ihm die aufgesetzte Maske fällt. Das Original stammt zwar aus Spanien, doch haben Boss und Drehbuchautor Alexander Seibt die Story clever für die Schweiz angepasst, sodass man einiges an dem Verhalten der Figuren aus den eigenen vier Wänden oder ausserhalb davon wiedererkennt.
Indem sich die Handlung fast ausschliesslich in denselben vier Wänden abspielt, die übrigens in einer Lagerhalle in Samstagern im Kanton Zürich aufwändig hochgezogen wurden, funktioniert der Film auch etwas wie ein Dampfkochtopf der aufgestauten Gefühle. Sind diese mal entwichen, werden sie durchaus ernstgenommen. Ja, es gibt hier einiges zu lachen, doch haben wir es hier nicht mit Clownfiguren zu tun, sondern vor allem im Fall von Lardis und Wiesnekkers Charakteren mit dreidimensionalen Figuren, die uns nicht egal sind.
Im Gegensatz dazu sind Spales Lisa und Simonischeks Salvi deutlich simpler und flacher. Dies liegt jedoch nicht an den beiden Castmitgliedern, sondern an ihren Figuren, denen es in der Beziehung und vor allem in Sexfragen ein bisschen zu optimal läuft. Spannend wäre gewesen, wenn sich auch bei ihnen ein paar Risse aufgetan hätten und es so zum vermehrten Schlagabtausch gekommen wäre. Stattdessen hat Die Nachbarn von oben gegen Ende hin etwas von einer Paartherapiesitzung - mit zwei Aufgebrachten und zwei ruhig Zuhörenden. Dabei wirft eine Partei einer anderen gerne das Wort «Schluuch» an den Kopf, wobei der Schimpfswortverteilende den wohl grössten «Schluuch» im Spiegel finden würde. Auch das hat was typisch Schweizerisches: Immer sind die anderen schuld, aber selbst ist man es nie.
Mit einer kompakten Inszenierung und einigen clever gewählten Kameraeinstellungen gelingt Boss der Spagat zwischen Komödie und Drama besser als zum Beispiel dem ähnlich gelagerten Das perfekte Geheimnis. Mit 88 Minuten hat das zudem gerade die richtige Länge, sodass beim Abspann noch genügend Zeit bleibt, um leicht-peinlich berührt und/oder gerührt im Kinosessel mit der Partnerin oder dem Partner über das Gesehene zu diskutieren.