The Mother of All Lies (2023)

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  2. 96 Minuten

Filmkritik: Seeking truth in past

76e Festival de Cannes 2023
Nicht einmal Nachtessen gibt's in diesem Altersheim!
Nicht einmal Nachtessen gibt's in diesem Altersheim! © Studio / Produzent

Die junge marokkanische Filmemacherin Asmae El Moudir hat Fragen. Fragen an ihre Familie, die ihr bisher nie beantwortet wurden, sondern über die seit Jahrzehnten ein Verband des Stillschweigens gelegt wurde. Asmae möchte diesen gut behüteten Geheimnissen jedoch auf den Grund gehen, ihre eigene Familiengeschichte kennenlernen und will wissen, weshalb von ihr nur eine Fotografie im Kindesalter vorhanden ist.

Perfektes Ebenbild?
Perfektes Ebenbild? © Studio / Produzent

Zusammen mit ihrem Vater baut sie detailgetreue Modelle der Häuser und Strassen ihres Quartiers nach und fertigt Puppen der dort wohnhaften Personen an. Mit Hilfe dieser Puppen kommt sie nach und nach den familiären Hintergründen auf die Spur und bringt am Ende sogar ihre äusserst verschwiegene Grossmutter zum Reden. Was dabei ans Tageslicht kommt, findet seine Ursprünge nämlich im Jahre 1981, als in Casablanca die Brot-Revolution stattfand, und hat in der Familiengeschichte tiefe Spuren und Wunden hinterlassen.

Mit The Mother of All Lies arbeitet die Regisseurin Asmae Elmoudir ihre eigene Familiengeschichte auf. Im direkten Bezug dazu steht die Geschichte ihres Heimatlandes Marokko. Mit interessanten Stilmitteln versucht sie, die Emotionen zu transportieren, die durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aufkommen. Der Mischung aus Realverfilmung und Puppenspiel fehlt allerdings die Konstanz.

In The Mother of All Lies begibt sich Asmae Elmoudir auf die Suche nach ihren eigenen Wurzeln. Dabei arbeitet sie lange totgeschwiegene Themen und Ereignisse ihres Heimatlandes auf, die wie Geister der Vergangenheit über den Existenzen der marokkanischen Bevölkerung schwebten. Bis zurück in die 1980er-Jahre führt sie ihre Reise, an die Anfänge der Brot-Revolution in Casablanca im Jahre 1981, als Proteste gegen stark angestiegene Lebensmittelpreise gewaltsam und unter Inkaufnahme vieler Todesopfer niedergeschlagen wurden.

Der Dokumentarfilm umfasst verschiedene Ebenen und Stile: In realverfilmten Szenen sieht man die Regisseurin und ihren Vater beim Bauen und Erstellen der Modelle. Wie Puppenhäuser kneten sie diese aus Lehm und stellen die Gebäude bis ins kleinste Detail realitätsgetreu nach, möblieren diese und statten sie mit Einzelheiten aus - inklusive den Fassaden und den in den Wohnungen aufgehängten Bildern. Diese Modelle und Puppen dienen den Charakteren später dazu, die Erlebnisse nachzuspielen, sie Revue passieren zu lassen und die Geheimnisse und Lügen aufzuklären.

Dabei stechen primär die wunderschönen Kulissen der Mini-Welt ins Auge, die mit Lichtern und sämtlichen Familienmitgliedern im Kleinformat ausgestattet sind und so zum Hauptschauort des Filmes werden. Die darin gespielten Szenen mitsamt dem historischen Kontext, der tragischen Familiengeschichte, erschliessen sich dem Publikum erst nach und nach. Langsam öffnen sich die Menschen und teilen ihre Schicksalsschläge mit uns Zuschauenden.

Was dem Film jedoch fehlt, ist die Konstanz. Immer wieder finden Wechsel zwischen realverfilmten Szenen und den Puppenspielen statt, was die Geschwindigkeit im Erzähltempo beeinträchtigt und holprig wirkt. Dabei bleibt die Kamera erstaunlich oft auf dem Familienoberhaupt und der Hauptgeheimnishüterin hängen: der Grossmutter. Diese trumpft mit kurrligen Reaktionen auf, nimmt aber sehr lange keinen Einfluss auf die Geschichte und die Auflösung der Geheimnisse. Die kontextuelle Einbettung der Ereignisse fällt nicht ganz leicht, denn es werden unterschiedliche Tragödien erzählt, die Hintergründe zu der Revolution wird jedoch nur angeschnitten.

The Mother of All Lies ist eine Reise in die eigene Vergangenheit, jedoch ebenfalls eine historische Aufarbeitung von Geschehnissen, die interessante Stilmittel zu unebenmässig verwendet und so die ganz grossen Emotionen ausbremst.

Yannick Bracher [yab]

Yannick ist Freelancer bei OutNow seit Sommer 2015. Er mag (Indie-)Dramen mit Sozialkritik und packende Thriller. Seine Leidenschaft sind Filmfestivals und die grosse Leinwand. Er hantiert phasenweise noch mit einem Super-8-Projektor und lernt die alten Filmklassiker kennen und schätzen.

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