May December (2023)

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Filmkritik: «I don't think we have enough hot dogs»

76e Festival de Cannes 2023
Visuell klappt die Annäherung schon hervorragend.
Visuell klappt die Annäherung schon hervorragend. © May December Productions 2022 LLC

Die Sexverbrecherin Gracie Atherton-Yoo (Julianne Moore) wurde zum True-Crime-Star, als sie in den Neunzigern als 36-Jährige einen 13-Jährigen verführte. Ihre Geschichte schlug medial Wellen und wurde als Trash-TV-Drama verfilmt. Nach einem Aufenthalt im Gefängnis wurde aus ihrer damals illegalen Beziehung mit Joe (Charles Melton) eine Ehe mit drei bald erwachsenen Kindern.

Schmink-Tutorial unter Stars.
Schmink-Tutorial unter Stars. © May December Productions 2022 LLC

Für ein seriöseres Indie-Filmprojekt soll nun der Hollywoodstar Elizabeth Berry (Natalie Portman) die Rolle der Gracie übernehmen. Sie meldet sich zu Recherche-Zwecken an und sorgt mit ihrem Erscheinen in der Gegend für Aufregung. Alle sind ein bisschen starstruck. Doch die Welt der Familie Atherton-Yoo ist nicht so heil, wie sie auf den ersten Blick den Anschein macht.

In einem satirischen Melodrama, das Skandalgier und kreative Recherche gleichermassen auf die Schippe nimmt, lässt Todd Haynes (Carol) seine Muse Julianne Moore auf Natalie Portman, eine andere Ausnahmekönnerin, treffen. Der schauspielerische Machtkampf endet genauso unentschieden wie die Frage, ob man die Handlung nun lustig finden oder den Film zu Tode analysieren soll.

«May December» ist eine Bezeichnung für ein Liebespaar mit grossem Altersunterschied. Der jüngere Partner hat noch Frühling, während der ältere sich bereits im Winter seines Lebens befindet. Im Film von Todd Haynes wird der Altersunterschied besonders argwöhnisch betrachtet, weil man sich kennengelernt hat, als er erst 13 Jahre alt war. Ein Fressen für die Presse, denn je nach Geschlechterkonstellation findet der Boulevard das jeweils fragwürdig oder - weil die Frau als aktive Verführerin auftritt - auf perverse Weise erstrebenswert. «Vernaschen» ist dann jeweils das Stichwort.

Haynes zeigt den Skandal im Vorbeigehen, weil er bis heute Auswirkungen hat auf das Leben von Grace. Päckli mit Fäkalien liegen auch bei Elizabeths Ankunft noch vor ihrer Haustür. Den Regisseur interessiert aber eher der Recherche-Prozess einer Schauspielerin: die aktive Auseinandersetzung mit dem Subjekt. Besuche zum Znacht. Interviews mit dem Umfeld. «Tatort»-Besichtigungen und dergleichen. Natalie Portman notiert sich als Elizabeth sogar die Make-up-Marken ins Notizbuch. Das neugierige Neuseln ist zu Beginn noch lustig, wird aber immer unverfrorener. Julianne Moores Gracie versucht derweil, ihre Sicht auf die Dinge ins Filmprojekt zu bringen. In der falschen Annahme, man sei ihr mittlerweile wohlgesinnt.

Da treffen also zwei grossartige Schauspielerinnen aufeinander und kämpfen um Deutungshoheit. Haynes, der normalerweise sehr gediegene Filme macht, lässt sich vom trashigen Kern der Geschichte beeinflussen und bietet ihnen eine schrille Plattform für fiese Sonderlichkeiten. Mit der Musik als besonders penetrantem Hinweis auf inszenierte Dramatik. Die Aktivitäten sind teilweise so doof, dass man es kaum glauben kann. May December funktioniert nicht als Insiderbericht über das Herauskristallisieren einer schauspielerischen Performance, sondern nur als ewig zu analysierender Film über Sein, Schein und Pädophilie. In Cannes wurde bei der Weltpremiere viel gelacht - aber taugt so ein Stoff wirklich zur Komödie?

Roland Meier [rm]

Roland sammelt 3D-Blu-rays, weil da die Publikationen überschaubar stagnieren, und kämpft im Gegenzug des Öfteren mit der Grenze der Speicherkapazität für Aufnahmen bei Swisscom blue TV. 1200 Stunden Film und Fernsehen ständig griffbereit sind ihm einfach nicht genug.

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