Auch im letztjährigen Elvis-Biopic hatte Little Richard seinen Auftritt; in einer kleinen Nebenrolle, gespielt von Alton Mason. Das ist wohl ein wenig bezeichnend; denn eine Nebenrolle spielte der Sänger jahrelang auch auf der Rock'n'Roll-Bühne, obwohl er diesen Musikstil doch sozusagen begründet hat. In seiner unbescheidenen Art wurde er selbst nicht müde, diesen Fakt immer wieder zu betonen, doch bestätigten dies auch zahlreiche Zeitgenossen. So hängten beispielsweise sowohl die Beatles als auch die Stones in ihren frühen Jahren mit ihm ab, bevor sie selbst zu übergrossen Stars wurden.
Little Richard: I Am Everything ist somit auch eine Doku über die nordamerikanische Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; einer Zeit, in der Homosexuelle und Afroamerikaner auf verschiedensten Ebenen diskriminiert wurden, so auch in der Musik. Zum Weltstar wurde Elvis, nicht Little Richard - nicht zuletzt wegen seiner Hautfarbe.
Die Doku von Lisa Cortes, selbst eine Afroamerikanerin, versucht so zwei Aspekte zu verbinden: einerseits Little Richard zu porträtieren, andererseits aber auch ein Schlaglicht zu werfen auf die Diskriminierung, der dunkelhäutige Künstlerinnen und Künstler oft ausgesetzt waren. Sie arbeitet dabei mit vielen Archiv-Interviews, von Mick Jagger über David Bowie bis hin zum 2020 verstorbenen Little Richard selbst. Daneben hat sie auch neue Interviews geführt, mit noch lebenden Zeitzeuginnen und -zeugen wie auch mit jungen, queeren Menschen, für die der Künstler heute noch ein Vorbild ist.
Leider geht diese Mischung nicht ganz auf. Da die Regisseurin - mit wenigen Ausnahmen - darauf verzichtet, die einzelnen Archivinterviews zu datieren, fällt es dem Publikum schwer, diese Aussagen richtig einzuordnen. Wenn der Film auch ziemlich chronologisch erzählt ist, weiss man nie genau, in welcher Zeit man sich gerade befindet und es fehlt der Kontext, in dem eine Aussage getätigt worden ist. Nur schwer greifbar wird auch Little Richards Charakter, wobei dies wohl auch seiner Persönlichkeit geschuldet ist.
Natürlich geht ein Musiker-Biopic nicht ohne Musik. Little Richard: I Am Everything schafft es zumindest ansatzweise, die Energie wiederzugeben, mit welcher der Künstler sein Publikum damals begeisterte. Das ist vor allem für alle die wertvoll, die den Künstler nie live erleben durften - und das dürfte im Jahr 2023 wohl der grösste Teil der Musikfans sein. Mehr solche Musikszenen hätten für die fehlende Struktur entschädigt, doch schneidet sich dies wiederum mit der Ambition der Regisseurin, mehr zu bieten als eben «nur» eine Musiker-Biographie. So ist diese Doku letztendlich leider weder Fisch noch Vogel. Beziehungsweise: weder «Molly» noch «Sally».