Alice Rohrwacher legt fünf Jahre nach Lazzaro felice und ein Jahr nach ihrem Kurzfilm Le pupille mit La chimera nach. Und die italienische Koryphäe im Erzählen neorealistischer und gleichzeitig märchenhafter Geschichten erschafft erneut eine Welt, wie es nur eine Alice Rohrwacher kann. Wie bereits in Lazzaro felice dauert es eine Weile, bis man sich als Publikum darin zurechtfindet. Auch hier ist eine zeitliche wie örtliche Einordnung nicht ganz einfach vorzunehmen, die Charakterkonstellationen bleiben lange schleierhaft. Was beim Vorgänger durch einen Familienverbund Halt erhielt, droht hier fast auseinanderzufallen und bleibt länger erschwert in seiner Zugänglichkeit.
Dann jedoch entfaltet La chimera seinen Reiz. Die Grabräuber bei ihrem Vorgehen zu beobachten oder die langsamen gegenseitigen Annäherungen der Charaktere zu spüren, erzeugt einen feinen Charme in einem für Rohrwacher gewohnt mystischen Umfeld. Auch hier hat der Hauptcharakter eine Gabe, und auch hier wird er von seiner Herde losgelöst, tingelt alleine durch eine ihm nicht nur positiv gesinnte Welt. Wie auch Lazzaro wird hier Arthur missverstanden, ausgenutzt und auf sich alleine gestellt zur tragischen Figur. Er trauert einer vergangenen Liebe nach, versucht die Leere zu füllen, die in ihm geblieben ist, wie er die Leere unter der Erde sucht, die über Jahrhunderte verborgenen Gräber.
Was Rohrwachers Filme so einzigartig macht, sind - neben den märchenhaften und doch brutal realen Geschichten - die von ihr verwendeten Locations und Optik. La chimera spielt in einer heruntergekommenen ländlichen Region Italiens. Arthurs spärliche Behausung aus Brettern liegt an die Aussenseite der Stadtmauer. Auch sonst dienen ehemals prunkvolle, altehrwürdige Gebäude, die ihre besten Tage lange hinter sich gelassen haben, als Kulisse für Rohrwachers Film. Die Fassaden bröckeln, die Möbel werden zu Feuerholz umgenutzt, die Atmosphäre ist verrucht und schmutzig. Es sind primär die einfachen, armen Leute, die sie ins Zentrum rückt und sie interessieren, wobei sie hier für ihre den Charakter ihrer Schwester, Alba Rohrwacher, eine Ausnahme gemacht hat.
Optisch fällt ein analog gewähltes Aufnahmeformat ins Auge. Das flimmernde, körnige Bild ist an seinen Ecken abgerundet und rattert munter dahin. Wie gewohnt überlässt Rohrwacher einiges der eigenen Vorstellung und somit viel Raum für Interpretation. Dabei spielt sie clever mit Handlungen, die anfangs stattfinden, später jedoch wieder aufgenommen und erneut wichtig werden. La chimera macht es einem nicht einfach - kann man sich jedoch auf die Welt von Alice Rohrwacher einlassen, wird man in deren Bann gezogen.