Bratsch - Ein Dorf macht Schule (2023)

Bratsch - Ein Dorf macht Schule (2023)

  1. 91 Minuten

Filmkritik: Schulreform

58. Solothurner Filmtage 2023
Herr Lehrer, Herr Lehrer…
Herr Lehrer, Herr Lehrer… © Filmcoopi

Bratsch, ein 500-Seelen-Dorf oberhalb von Gampel in den Walliser Bergen: Das Dorf kämpft mit dem Wegzug seiner Bewohnenden, das Schulhaus steht leer, die Kinder gehen nach Gampel in die Schule. Bis 2016, als mit Damian Gsponer ein innovativ und fortschrittlich denkender junger Mann das Schulsystem revolutioniert. Nicht ein Lehrplan soll im Zentrum seiner mit 16 Schülern und Schülerinnen gestarteten Schule stehen, sondern das Kind als Individuum mit seinen ganz eigenen und individuellen Bedürfnissen. Durch die Gemeinde unterstützt und dennoch durch die Behörden als eigenständige Alternative zum staatlichen Schulsystem nicht akzeptiert, organisiert Gsponer seine Schule als Privatschule, welche für alle Bevölkerungsschichten zugänglich sein soll.

«Chrampfe» statt Klausur
«Chrampfe» statt Klausur © Filmcoopi

Anstelle von Noten- und Leistungsdruck, Schulfächern und Bestrafungsmethoden, herrscht in diesem Schulkonzept eine möglichst hohe Eigenständigkeit und ein maximales Mass an Selbstbestimmung: Die Kinder arbeiten an Projekten, welche Theorie und lebenspraktische Fähigkeiten verbinden, nein, gar homogen verweben. Die Dokumentation zeigt den Aufbau und das Konzept des innovativen Schulsystems, aber auch, mit welchen (behördlichen) Hürden sie zu kämpfen haben.

Bemessen, Material berechnen, bauen statt Bruchrechnen und learning by speaking anstelle von Wörtli lernen: Die Dokumentation Bratsch - Ein Dorf macht Schule porträtiert auf witzige, interessante Weise das Konzept von Damian Gsponers alternativem Schulsystem. Sie lässt die Protagonisten und Protagonistinnen gleich selbst zu Wort kommen, lässt dadurch jedoch etwas den Background vermissen. Durch authentische Einblicke und den Fokus auf die positiven Aspekte ist die Doku sehenswert und bleibt nachhaltig in Erinnerung.

Norbert Wiedmer befasst sich in seiner Dokumentation Bratsch - Ein Dorf macht Schule mit dem Schulsystem in Bratsch im Wallis. Hier hat es sich Damian Gsponer zum Ziel gemacht, mit den üblichen Konventionen des staatlichen Schulsystems zu brechen und eine Alternative zu entwickeln, welche durch und durch auf die Bedürfnisse der Kinder abgestimmt ist. Viele Menschen assoziieren mit ihrer schulischen Laufbahn negative Erinnerungen: Leistungsdruck, Noten, nicht interessante Themen, Hausaufgaben oder Strafarbeiten. Eine Schule fürs Leben stellt dieses System kaum dar, in welchem Voci und Formeln für die Prüfungen auswendig gelernt werden müssen, nur um sie anschliessend schnellstmöglich wieder zu vergessen.

Aufgrund seiner - den eigenen Aussagen nach - unbefriedigenden Erfahrungen mit dem konventionellen Schulsystem entwickelte sich die Idee und das Konzept seiner pädagogischen Herangehensweise an seine schulische Ausbildung, welche das Kind und nicht einen Lehrplan in den Fokus stellt. Dieser Pionierarbeit, welche Gsponer leistete, wird in dieser Dokumentation Rechnung getragen und verfolgt den Schulleiter sowie seine Klasse von Beginn an bis ins Jahr 2022. Und wie Gsponders Konzept es vorsieht, erklärt er seine Vision und seine Beweggründe (beispielsweise in TV-Interviews), meist wird aber auch hier den Kindern der Vortritt gelassen. Sie sind es, welche ihre Projekte erklären, ihre Erfahrungen mit dem Schulsystem mitteilen dürfen und die Dokumentation tragen. Es geht um die Kinder, um den Gewinn, welchen sie daraus erzielen können.

Die Dokumentation greift pädagogisch wichtige und wertvolle Themen auf und bearbeitet diese auf eine einleuchtende Art und Weise. Stets werden die positiven Aspekte und Errungenschaften durch Individualität, die Beteiligung und Mitsprache, den Erwerb von Selbstständigkeit der Kinder thematisiert und aufgezeigt. Die Ehrlichkeit und Offenheit der Kinder versetzt die Dokumentation mit einer gehörigen Prise Humor und bringt auch das Publikum zum Lachen und Schmunzeln, was ihr zu einer gewissen Leichtigkeit verhilft. Ankreiden mag man ihr höchstens, dass sie die Kinder phasenweise etwas zu sehr zu Erwachsenen hochstilisiert, wenn diese eine Sitzung mit dem Gemeindepräsident leiten und unklar bleibt, ob dies nicht möglicherweise zu inszenatorischen Zwecken erfolgte.

Der Umgang mit den Behörden und die durch diese aufgebahrten Hürden werden angeschnitten, hätten aber noch etwas konkreter behandelt werden dürfen, ebenso die Hintergründe, wie genau die Umsetzung der Verknüpfung von Theorie und Praxis abläuft. Hier wären genauere Erläuterungen sinnvoll und interessant gewesen. So fehlen der Dokumentation kleine, erläuternde Passagen, was das Publikum etwas im Ungewissen lässt.

Bratsch - Ein Dorf macht Schule ist eine sehenswerte, äusserst interessante Dokumentation, welche zum Nach- und hoffentlich Umdenken anregt. Das Monopol «staatliches Schulsystem» muss sich eine immer lauter werdende Frage gefallen lassen: Schule, weshalb nicht nur noch so?

Yannick Bracher [yab]

Yannick ist Freelancer bei OutNow seit Sommer 2015. Er mag (Indie-)Dramen mit Sozialkritik und packende Thriller. Seine Leidenschaft sind Filmfestivals und die grosse Leinwand. Er hantiert phasenweise noch mit einem Super-8-Projektor und lernt die alten Filmklassiker kennen und schätzen.

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Trailer Schweizerdeutsch, mit deutschen Untertitel, 2:21 © Filmcoopi