Filmkritik: Nein! (Ohne Begründung)

76e Festival de Cannes 2023
Who's the strongest now?
Who's the strongest now? © Studio / Produzent

Geschichten aus dem heutigen Iran: Einer Schülerin wird vorgeworfen, sie sei von ihrem Freund mit dem Motorrad zur Schule gebracht und dabei gesehen worden. Ein Mann wird im Spital schikaniert, weil sein neugeborener Sohn einen Namen erhalten soll, der nicht dem Namenskodex des Irans entspricht. Ein Mädchen muss für einen Schulanlass ein traditionelles Gewand und einen Hijab tragen, was ihr nicht gefällt. Eine Frau sucht auf dem Polizeiposten ihren Hund, der ihr von der Polizei weggenommen wurde, wird aber brüsk abgewiesen.

Das darf doch nicht wahr sein!
Das darf doch nicht wahr sein! © Studio / Produzent

Bei Bewerbungsgesprächen wird eine junge Frau belästigt. Der Chef macht anzügliche Bemerkungen und Anspielungen, fragt sie über private Details aus. Ein Mann muss bei seinem Einstellungsgespräch aus dem Koran zitieren und eine Gebetswaschung imitieren. Eine Frau wird beschuldigt, ohne Hijab Auto gefahren zu sein. Einem jungen Mann wird kein Führerschein ausgestellt, weil er ein Gedicht auf seinen Körper tätowiert hat, und ein Drehbuchautor muss sein komplettes Skript umschreiben, weil es dem Geldgeber nicht gefällt.

Terrestrial Verses ist ein Episoden-Drama, das die Machtstruktur des iranischen Staates anprangert. Dabei werden die ernsten Themen nie dramatisiert, sondern mit erstaunlicher Leichtigkeit und einer guten Prise Humor ausgestattet und vermittelt. Und doch bleibt die anklagende Grundaussage in ihrem Kern erhalten.

In mehreren Episoden zeigt der Film, über welche Macht der iranische Staatsapparat verfügt und mit welchen Mitteln er diese umzusetzen vermag. Dabei wird schnell klar, dass deren Legitimität zu keiner Zeit gewährleistet ist und die Handlungen willkürlich und nach eigenem Ermessen, doch stets unter dem Deckmantel der religiösen Vorgaben der Regierung verlaufen. Dass Entscheidungen dabei jeweils ohne nachvollziehbare oder gänzlich ohne Begründung gefällt werden, vermag kaum mehr zu erstaunen.

Jüngste Ereignisse und ihre Reaktionen im Iran (Stichwort: «Women, Life, Freedom») haben ihre Spuren hinterlassen und gezeigt, was es heisst, wenn Menschenrechte mit Füssen getreten werden und eine tief religiös verwurzelte Staatsstruktur, inklusive Sittenpolizei, installiert wird. Ali Asgari und Alireza Khatami gelingt es, diese erschütternden Missstände in ihrem Heimatland in eine Tragikomödie zu packen, die zugleich aufwühlt und Ratlosigkeit hinterlässt ab der Methodik, wie die Menschen dem System unterjocht und konzeptionell drangsaliert werden.

Andererseits sind die gezeigten Episoden teilweise so befremdlich absurd, dass sie stilisiert und überzogen wirken und so bereits wieder zum Lachen anregen. Das Mädchen, das der Liebschaft mit einem Jungen beschuldigt wird, hat es faustdick hinter den Ohren und zeigt deutliche Anzeichen von Aufmüpfigkeit. Ein Hinweis, dass sich die Menschen im Iran nicht alles gefallen lassen.

Die Episoden werden jeweils mit dem Charakternamen tituliert und angekündigt. Dabei verfolgt die Kamera stets eine starre Einstellung, die in den meisten Fällen nur eine Perspektive zeigt: diejenige des Staatsorganes, der Beamten, der Sittenwächter. Sie scheut sich nicht davor, das Bild einen Moment ohne dargestellte Charaktere zu lassen, denn dann müsste sie die Kameraeinstellung und somit die dargestellte politische Perspektive wechseln.

In ihrer Länge sind die Episoden nur marginal unterschiedlich und unterscheiden sich in ihrer Dramaturgie: Während einige dramatischer daherkommen, spielen andere mehr mit dem Publikum und lassen auch den notwendigen Wortwitz nicht vermissen. Die ausgewählte Anzahl der Episoden passt gut. Auch wenn der Film so lediglich auf eine 75-minütige Laufzeit kommt, gelingt es ihm dadurch, unnötige Repetitionen zu vermeiden. Und schlussendlich stellt sich nur kurz die Frage, wie realitätsgetreu die dargestellten Szenen wirklich sind, denn für die Entfaltung ihrer Wirkung und zur Generierung der Kernaussagen spielt dies keine Rolle.

Yannick Bracher [yab]

Yannick ist Freelancer bei OutNow seit Sommer 2015. Er mag (Indie-)Dramen mit Sozialkritik und packende Thriller. Seine Leidenschaft sind Filmfestivals und die grosse Leinwand. Er hantiert phasenweise noch mit einem Super-8-Projektor und lernt die alten Filmklassiker kennen und schätzen.

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