L'amour et les forêts (2023)

L'amour et les forêts (2023)

Filmkritik: Mein Mann, der Feind

76e Festival de Cannes 2023
Ein Bild aus glücklicheren Zeiten.
Ein Bild aus glücklicheren Zeiten. © Agora Films

Die Lehrerin Blanche (Virginie Efira) ist happy: Endlich hat sie ihren Traummann gefunden! Der Banker Greg (Melvil Poupaud) ist nicht nur umwerfend attraktiv, sondern auch erfolgreich im Beruf, charmant, zärtlich, romantisch, gut im Bett und - das Beste - absolut verrückt nach ihr. Ein veritabler Sechser im Lotto. Klar, dass Blanche nicht lange zögert und gleich das «volle Programm» durchzieht: Hochzeit, Kinder, gemeinsames Haus. Dass sie dafür in eine andere Stadt ziehen und damit auch ihre geliebte Zwillingsschwester (ebenfalls Virginie Efira) verlassen muss, nimmt sie dafür gerne in Kauf.

Trügerische Familienidylle
Trügerische Familienidylle © Agora Films

Doch nach einigen Ehejahren realisiert sie, dass ihr vermeintlicher Traumgatte auch seine dunklen Seiten hat. Hat sie seine ständigen Anrufe während ihrer Arbeit anfangs noch als Liebesbeweis interpretiert, so entpuppt sich Greg je länger je mehr als krankhaft eifersüchtiger Kontrollfreak. Als die zunehmend unglücklichere Blanche einen Weg sucht, um auszubrechen und sich vorübergehend seiner Kontrolle zu entziehen, beginnt für sie ein Albtraum, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint.

Das Thema mag nicht neu sein, dessen Dringlichkeit ist jedoch ungebrochen. Mit L'amour et les forêts gelingt der Französin Valérie Donzelli eine hoch beklemmende Darstellung von psychischer und physischer Gewalt in der Ehe. Beeindruckend spielen dabei Virginie Efira und Melvil Poupaud in den Hauptrollen auf. Ein Film, der aufrüttelt und bewegt. Und ein Warnschuss, der zeigt, wie harmlos eine toxische Beziehung beginnen kann.

Er ist einfach zu perfekt, um wahr zu sein. Dass bei diesem smarten Banker etwas nicht stimmt, ahnt das Publikum schon in den ersten Szenen des Filmes. Diese spulen sozusagen im Schnelldurchlauf die Kennenlernphase inklusive anschliessender Hochzeit und Kindern durch; und scheinen direkt einer kitschigen Liebesschnulze entsprungen. Dahinter steckt natürlich volle Absicht: Schliesslich ist auch die Protagonistin anfangs geblendet von ihrer Verliebtheit, so dass sie auch erste beunruhigende Anzeichen ignoriert.

Das ist verständlich: Gregs Verwandlung geschieht ja nicht über Nacht; ja, streng genommen ist es nicht mal eine Verwandlung. Sondern es sind die vermeintlich tollen Eigenschaften wie seine absolute Hingabe, deren negative Seiten sich im Laufe der Jahre immer stärker akzentuieren. Melvil Poupaud gelingt es hervorragend, diesen subtilen Prozess darzustellen. Sein Greg ist ein Paradebeispiel toxischer Männlichkeit. In einer der besten Szenen des Filmes wird er sich dessen selbst bewusst - nur um dann doch wieder seiner Frau dafür die Schuld zu geben. Denn das «Victim Blaming» gehört leider auch zum Standardrepertoire der Täter.

Je länger der Film dauert, desto einengender und bedrohlicher wird die Situation nicht nur für Virginie Efira als Blanche, sondern desto unangenehmer wird der Film auch für das Publikum. Man möchte ihr zurufen, endlich die Konsequenz zu ziehen, versteht aber auch, warum sie dermassen zögert. Das liegt auch am hervorragenden Spiel der Hauptdarstellerin. Denn sie verkörpert kein unterwürfiges Huscheli, sondern eine selbstbewusste, gebildete und intelligente junge Frau; eine Frau, die denkt, häusliche Gewalt betreffe vielleicht andere, aber sicher nicht sie. Und plötzlich ist es beinahe zu spät.

Regisseurin Valérie Donzelli greift mit L'amour et les fôrets ein Thema auf, das seit #MeToo auch in der Öffentlichkeit präsenter geworden ist. Ihr Film mag einigermassen berechenbar und - bedingt durch die Erzählstruktur, in der Blanche ihre Geschichte einer Anwältin erzählt - auch nicht besonders spannend sein. Und trotzdem zeigt ein Blick in die Statistik, dass das Thema nichts an Aktualität verloren hat. Einen Albtraum, wie Blanche ihn erlebt, wünscht man niemandem - egal, ob Mann oder Frau.

Simon Eberhard [ebe]

Aufgewachsen mit Indy, Bond und Bud Spencer, hatte Simon seine cineastische Erleuchtung als Teenager mit «Spiel mir das Lied vom Tod». Heute tingelt er durch Festivals und mag Krawallfilme genauso wie Artsy-Farts. Nur wenn jemand einen Film als «radikal» bezeichnet, rollt er genervt mit den Augen.

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