Tori et Lokita (2022)

Tori et Lokita (2022)

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  2. 88 Minuten

Filmkritik: Für ein paar Euros mehr

75e Festival de Cannes 2022
«Eurovision Song Contest, wir kommen!»
«Eurovision Song Contest, wir kommen!» © Christine Plenus

Lokita (Mbundu Joely) und Tori (Pablo Schils) sind unzertrennlich. Das Teenager-Mädchen und der 11-jährige Junge haben sich bei ihrer Flucht von Afrika nach Europa auf dem Schiff kennengelernt und schlagen sich seitdem gemeinsam durchs Leben. In einer zwielichtigen Pizzeria helfen die beiden nicht nur in der Küche aus und unterhalten singend die Gäste; sie sind für den Pizzeria-Boss (Baptiste Sornin) auch auf der Strasse unterwegs, um Drogen zu verkaufen. Von den Euros, die sie verdienen, sehen sie selbst nicht viel, denn den grossen Teil davon nimmt ihnen der Schlepper ab, der sie nach Europa gebracht hat. Den Rest schickt Lokita der Mama in ihrem Heimatland.

Vieles würde einfacher werden, wenn Lokita endlich eine Aufenthaltsbewilligung und damit einen Ausweis erhielte. Zu diesem Zweck geben sich Tori und Lokita als Geschwister aus, denn Tori hat bereits Papiere. Doch das Unterfangen droht zu scheitern, weil sich Lokita beim Interview mit den Behörden in Widersprüche verstrickt. So ist sie gezwungen, sich gefälschte Ausweispapiere zu beschaffen. Doch das ist nicht ohne Risiko.

Sie sind so etwas wie das Duracell-Häschen der Arthouse-Filme. Mit einer bewundernswerten Regelmässigkeit erschaffen die Dardenne-Brüder aus Belgien seit über 30 Jahren Arthouse-Dramen, die bewegen. Abschiffer gibt's dabei so gut wie keine. Auch ihr neuestes Drama erfüllt die Erwartungen und überzeugt vor allem dank seiner sympathischen Titelfiguren. Allerdings zeigt der Dardenne-Stil auch einige Abnutzungserscheinungen. So solide die Inszenierung ist, der Flüchtlingsdiskussion kann Tori et Lokita nichts hinzufügen, was nicht schon andere Filme eindrücklicher gezeigt haben.

Bereits in ihrem vorletzten Film La fille inconnue haben Jean-Pierre und Luc Dardenne das Flüchtlingsthema aufgegriffen - dort allerdings aus der Perspektive einer europäischen Frau. Nun zeigen sie sozusagen die andere Seite und porträtieren mit den beiden Titelfiguren zwei junge Menschen, die nach Europa geflüchtet sind und sich hier mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, und dies an einem Ort, an dem niemand auf sie gewartet hat.

Ein durchaus hartes Schicksal. Und doch zeichnet der Film Tori und Lokita nicht einfach als hilflose Opfer. Im Gegenteil, die beiden zeichnen sich durch eine bewundernswerte «Street-Smartness» aus und wissen sich so immer wieder aus schwierigen Situationen zu retten. Aber natürlich sitzen sie letztendlich trotzdem am kürzeren Hebel. So zeigt der Film auch, wie die beiden wegen ihrer Abhängigkeit von allen Seiten ausgenutzt werden - vom «Arbeitgeber» in der Pizzeria genauso wie von der Schlepperbande, die sie unter Druck setzt. Und selbst die am Telefon präsente Mutter gibt Lokita weder Liebe noch Trost, sondern erwartet in erster Linie Cash.

In den Titelrollen spielen Pablo Schils und Mbundu Joely überzeugend das Fast-Geschwisterpaar. Sie sind die Identifikationsfiguren in einem Film, der anhand dieses Beispiels ein Bild von Flüchtlingsschicksalen in Europa im Jahr 2022 zeichnet. Damit sind die inzwischen 67- und 71-jährigen Dardenne-Brüder bei dem, was sie am besten können: Packende Geschichten von unterprivilegierten Menschen zu erzählen. Geschichten, die bewegen und mitnehmen und trotzdem nie pathetisch oder kitschig sind. Dieses Versprechen halten die Regisseure auch in ihrem neuen Film.

Allerdings müssen sie sich auch den Vorwurf gefallen lassen, dass sie damit nur eine weitere Variation ihres bekannten Repertoires zum Besten geben; zumal auch dem Genre des Flüchtlingsdramas nichts wesentlich Neues hinzufügen. Ist der Film in der zweiten Hälfte zwar spannend, so ist auch absehbar, wie die Geschichte enden wird. Und das macht den 88-minütigen Film auch ein wenig berechenbar. Die Intensität von früheren Dardenne-Meisterwerken wie Deux jours, une nuit, L'enfant oder Rosetta erreicht er nicht mehr. Es scheint, als hätte sich das erfolgreiche Format, mit dem die beiden Cannes-Stammgäste schon zwei Goldene Palmen einheimsen konnten, langsam ein wenig totgelaufen.

Simon Eberhard [ebe]

Aufgewachsen mit Indy, Bond und Bud Spencer, hatte Simon seine cineastische Erleuchtung als Teenager mit «Spiel mir das Lied vom Tod». Heute tingelt er durch Festivals und mag Krawallfilme genauso wie Artsy-Farts. Nur wenn jemand einen Film als «radikal» bezeichnet, rollt er genervt mit den Augen.

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Trailer Französisch mit deutschen Untertitel, 1:37 © Xenix Films