Un petit frère (2022)

Un petit frère (2022)

  1. 116 Minuten

Filmkritik: Jeunes hommes

75e Festival de Cannes 2022
Nah am Wasser
Nah am Wasser © cineworx

Ende der Achtzigerjahre wandert Rose (Annabelle Lengronne) mit zwei ihrer Söhne von der Elfenbeinküste nach Frankreich ein. Die übrigen Söhne hat sie in ihrem Heimatland lassen müssen. Das Leben als alleinerziehende Mutter und Immigrantin in Frankreich ist nicht einfach. Sie lernt verschiedene Männer kennen, die jedoch auch bald wieder aus ihrem Leben verschwinden. Mit einem ihrer temporären Partner zieht die Familie nach Rouen, doch auch diese Liaison hat nicht lange Bestand.

Eine Busfahrt ins Blaue
Eine Busfahrt ins Blaue © cineworx

Während dieser Jahre durchlaufen ihre beiden Söhne, die nach Frankreich mitgekommen sind, ihre Kindheit und Jugend. Jean (Stéphane Bak) legt sich dabei oft mit seiner Mutter und insbesondere deren aktuellen Lebenspartnern an. Der Graben zwischen Mutter und Sohn wächst, und Jean droht immer mehr auf die schiefe Bahn zu geraten. Ernest (Ahmed Sylla), der jüngere der beiden, war hingegen schon als Schüler begabt und hat eine vielversprechende Karriere vor sich. Doch die Trennung vom Rest der Familie und das Fehlen eines Vaters setzen auch ihm zu.

Der zweite Film der französischen Regisseurin Léonor Serraille fällt durch eine nüchterne Erzählweise auf, die den Fokus auf unterschiedliche Personen legt. So fällt es dem Publikum nicht ganz leicht, eine Verbindung zu den Charakteren aufzubauen. Sehenswert ist Un petit frère trotzdem, nicht zuletzt, weil der Film seine Protagonistin und die beiden Protagonisten ernst nimmt und deren Leben vielschichtiger darstellt, als es viele andere Filme mit ähnlichen Themen tun. Ein schwer greifbarer, aber dennoch sympathischer Film.

Wenn ImmigrantInnen aus Afrika in einem europäischen Film die Hauptrolle spielen, dann geht es normalerweise um Themen wie Rassismus oder Flüchtlingspolitik. Un petit frère ist diesbezüglich eine erfrischende Ausnahme. Zwar sind die Themen im Film latent präsent, doch stehen sie nicht in dessen Fokus. Ja, eigentlich spielt die Hautfarbe von Mutter und Söhnen nicht wirklich eine Rolle. Das ist insofern positiv zu werten, als der Film so auch die Erwartungen und Vorurteile des europäischen Publikums unterwandert.

Der Film hat drei Kapitel, benannt nach den drei Hauptpersonen. Und in jedem dieser drei Kapitel spielt die jeweilige Person die Hauptrolle. Die Handlung setzt Ende der Achtzigerjahre mit der Mutter Rose ein und endet in der Gegenwart, in der sich der jüngere Sohn Ernest als Erwachsener durchs Leben schlägt. Angesichts dieser grossen Zeitspanne und der Struktur ist es nicht erstaunlich, dass die Erzählweise eher episodenhaft ist. Die Zeitsprünge zwischen den Kapiteln sind vor allem an den Frisuren der Mutter, dem Alter der Söhne und den jeweils aktuellen Musikhits erkennbar - begonnen mit Technotronics Dance-Klassiker «Pump Up The Jam» aus dem Jahr 1989.

Durch diese Erzählweise ist es nicht immer einfach, den Zugang zu den Charakteren zu finden, gerade auch, weil sich die Protagonistin Rose immer wieder mit neuen Lebenspartnern umgibt. Doch gerade diese Abgehacktheit illustriert ein Stück weit auch die ständig wechselnden Umstände, unter denen die beiden Jungen aufwachsen.

Nach ihrem Debütfilm Jeune femme aus dem Jahr 2017 legt Regisseurin Léonor Serraille nun das Nachfolgewerk vor. Es ist ambitionierter, ernster und weniger unbeschwert als der Vorgänger. Dennoch ist Un petit frère kein bleischweres Drama. Obwohl sich die beiden Filme auf den ersten Blick inhaltlich wie auch strukturell völlig unterscheiden, sind gemeinsame Elemente auszumachen: In beiden geht es letztendlich um junge Menschen, die ihren Platz im Leben suchen. Man begleitet sie gerne dabei.

Simon Eberhard [ebe]

Aufgewachsen mit Indy, Bond und Bud Spencer, hatte Simon seine cineastische Erleuchtung als Teenager mit «Spiel mir das Lied vom Tod». Heute tingelt er durch Festivals und mag Krawallfilme genauso wie Artsy-Farts. Nur wenn jemand einen Film als «radikal» bezeichnet, rollt er genervt mit den Augen.

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