Der zweite Film der französischen Regisseurin Léonor Serraille fällt durch eine nüchterne Erzählweise auf, die den Fokus auf unterschiedliche Personen legt. So fällt es dem Publikum nicht ganz leicht, eine Verbindung zu den Charakteren aufzubauen. Sehenswert ist Un petit frère trotzdem, nicht zuletzt, weil der Film seine Protagonistin und die beiden Protagonisten ernst nimmt und deren Leben vielschichtiger darstellt, als es viele andere Filme mit ähnlichen Themen tun. Ein schwer greifbarer, aber dennoch sympathischer Film.
Wenn ImmigrantInnen aus Afrika in einem europäischen Film die Hauptrolle spielen, dann geht es normalerweise um Themen wie Rassismus oder Flüchtlingspolitik. Un petit frère ist diesbezüglich eine erfrischende Ausnahme. Zwar sind die Themen im Film latent präsent, doch stehen sie nicht in dessen Fokus. Ja, eigentlich spielt die Hautfarbe von Mutter und Söhnen nicht wirklich eine Rolle. Das ist insofern positiv zu werten, als der Film so auch die Erwartungen und Vorurteile des europäischen Publikums unterwandert.
Der Film hat drei Kapitel, benannt nach den drei Hauptpersonen. Und in jedem dieser drei Kapitel spielt die jeweilige Person die Hauptrolle. Die Handlung setzt Ende der Achtzigerjahre mit der Mutter Rose ein und endet in der Gegenwart, in der sich der jüngere Sohn Ernest als Erwachsener durchs Leben schlägt. Angesichts dieser grossen Zeitspanne und der Struktur ist es nicht erstaunlich, dass die Erzählweise eher episodenhaft ist. Die Zeitsprünge zwischen den Kapiteln sind vor allem an den Frisuren der Mutter, dem Alter der Söhne und den jeweils aktuellen Musikhits erkennbar - begonnen mit Technotronics Dance-Klassiker «Pump Up The Jam» aus dem Jahr 1989.
Durch diese Erzählweise ist es nicht immer einfach, den Zugang zu den Charakteren zu finden, gerade auch, weil sich die Protagonistin Rose immer wieder mit neuen Lebenspartnern umgibt. Doch gerade diese Abgehacktheit illustriert ein Stück weit auch die ständig wechselnden Umstände, unter denen die beiden Jungen aufwachsen.
Nach ihrem Debütfilm Jeune femme aus dem Jahr 2017 legt Regisseurin Léonor Serraille nun das Nachfolgewerk vor. Es ist ambitionierter, ernster und weniger unbeschwert als der Vorgänger. Dennoch ist Un petit frère kein bleischweres Drama. Obwohl sich die beiden Filme auf den ersten Blick inhaltlich wie auch strukturell völlig unterscheiden, sind gemeinsame Elemente auszumachen: In beiden geht es letztendlich um junge Menschen, die ihren Platz im Leben suchen. Man begleitet sie gerne dabei.