Was Ursula Meier in ihren Filmen immer wieder anspricht, sind Familienverhältnisse unterschiedlicher Art. Sie interessiert sich für die Beziehung zwischen Geschwistern sowie zwischen Kindern und Eltern. In La Ligne beobachtet sie drei Generationen von Frauen, die in einem angespannten, von Gewalt geprägtem Verhältnis zueinander stehen. Der Film zeigt, dass Gewalt verschiedene Formen annehmen kann. Formen, die vielleicht auf den ersten Blick unerkannte bleiben. Die Hauptfigur Margaret, gespielt von der charismatischen Schweizer Schauspielerin Stéphane Blanchoud, die mit Meier den Film gemeinsam geschrieben hat, leidet an einer Krankheit, die dem Borderline-Syndrom gleicht. Sie kann von einem Moment auf den anderen in die Luft gehen und schlägt sich dann mit wem auch immer, sie vor sich hat.
Doch das sehen wir meist nicht. Die Gewalt spielt sich immer im Hintergrund ab. Sie ist aber in Margarets Gesicht und an ihrem Körper sichtbar. Das ist ein besonders intelligenter Schachzug des Drehbuchs, denn die blauen Flecken und das aufgeschlitzte Augenlied Margarets sind dadurch umso eindrücklicher. Überhaupt beeindruckt die schauspielerische Leistung von Blanchoud sehr, die grossen körperlichen Einsatz leistet. Sie schafft es, ein Gleichgewicht zwischen der Wut und der ebenfalls in der Figur vorhandenen unendlichen Zärtlichkeit herzustellen. Spürbar ist der zerrissene Charakter von Margaret, die ihre Familie sehr liebt, aber ihre Impulse nur schwer kontrollieren kann.
Die titelgebende Linie hat verschiedene Bedeutungen. Sie ist eine rein physische, die es manchmal im Leben auch braucht, weil man zu gewissen Dingen Abstand einnehmen muss, um sie zu verstehen. Es gibt aber auch ganz viele unsichtbare Linien, die unser Verhältnis zu anderen beeinflussen. Linien sind Grenzen, die man nicht überschreiten darf, wenn man jemanden nicht verletzen will, es können aber auch Grenzen sein, die man zu überschreiten wagen sollte, weil sich nur so eine ganz besondere Nähe zu einem anderen Menschen herstellen lässt.
Beeindruckend ist das Zusammenspiel des fast ausschliesslich weiblichen Ensembles. Meier beweist einmal mehr, ihr Talent, ganz junge ausdrucksstarke Darstellerinnen und Darsteller zu finden. Elli Spagnolo spielt die junge Marion mit einer erstaunlichen Vielschichtigkeit und hält der erfahrenen Valeria Bruni Tedeschi in der Rolle der Mutter durchaus stand. Als roten Faden der Handlung nutzt der Film das Thema Musik. Jede Generation ist mit einem eigenen Musikgenre verbunden, die Mutter mit Klassik, Margaret mit Pop und Marion mit christlichem Kirchengesang. Die Musik ist das einzig Positive, dass die Mutter an ihre Tochter vererbt hat.
Was La Ligne so grossartig macht ist das Gleichgewicht, dass der Film zwischen Ernsthaftigkeit und leiser Komik findet. Denn trotz der Schwere des Grundthemas zeichnen sich die Dialoge durch feinen Humor aus. Es liegt an der dichten Inszenierung und am hervorragenden Sinn für Erzählrhythmus, dass der Film nicht auf einer schwermütigen Note endet, sondern immer wieder zum Schmunzeln anregt und an den entscheidenden Stellen tief berührt.