Holy Spider (2022)

Holy Spider (2022)

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  3. 116 Minuten

Filmkritik: Der goldene Hijab

75e Festival de Cannes 2022
Durch die Strassen von Mashhad bei Nacht
Durch die Strassen von Mashhad bei Nacht © Studio / Produzent

Die Journalistin Rahimi (Zar Amir-Ebrahimi) macht sich auf den Weg nach Mashhad, einer heiligen Stadt im Iran. Dort treibt ein Mörder (Mehdi Bajestani) sein Unwesen, der die Strassen der Stadt von Prostituierten befreien will. Seine Herangehensweise ist bei jedem Mord identisch: Er lockt seine Opfer zu sich aufs Motorrad, indem er sich als Freier ausgibt. Dann fährt er die Frauen in seine leere Wohnung, wo er die Frauen mit deren Hijjab erdrosselt.

Die Leiche wickelt er anschliessend in ein Tuch und fährt sie an den Stadtrand, wo er sie platziert, ehe er sich telefonisch bei einem lokalen Radiosprecher meldet, um bei diesem mit der neusten Tat zu prahlen. Die Leichen werden dann von der Polizei gefunden, Ermittlungen werden allerdings nicht eingeleitet, die Behörden schauen grosszügig weg. Mit Hilfe des Radiomoderators macht sich Rahimi auf Spurensuche und gerät in einen Strudel aus Gewalt und religiösem Fanatismus, in der Korruption und persönliche Verstrickung tiefgreifend verwurzelt zu sein scheinen. Denn auf Unterstützung durch die Polizei kann Rahimi nicht hoffen.

Ali Abbasi (Gräns) tut es wieder und begibt sich an Grenzen des Erträglichen und Zumutbaren. Holy Spider zeigt einen fanatischen Prostituierten-Mörder, der sein Unwesen treibt, während die Behörden zuschauen. Abbasis Film zeigt deftige, explizite Gewalt, dröhnt in den Ohren und klagt leise das Versagen des iranischen Staates an.

Holy Spider wagt den Gang in die dunkelsten Tiefen und Abgründe der menschlichen Seele und zeigt diese schonungslos und in aller Brutalität. Die heilige Stadt Mashhad nahe der afghanischen und turkmenischen Grenze ist Schauplatz für die Morde eines Psychopathen, dessen Begründung für seine Taten erschaudern lässt.

Politisch äusserst brisant und erschütternd ist die Kernaussage des Filmes. Sie zeigt die noch immer vorhandene kulturelle Wertvorstellungen und Ansichten im Hinblick auf die Rolle der Frau in der iranischen Gesellschaft. Sicherlich befinden sich diese Rollenbilder im Wandel, und doch scheinen das Bild und die Position der Frau in der iranischen Struktur noch immer tief verwurzelt. Eine Anklage an das System und die Behörden wird erst dann erhoben, als sich die Journalistin als Stimme für die Opfer einschaltet und riskante, ihr eigenes Leben gefährdende Ermittlungen anstellt.

Holy Spider schockiert und provoziert von der ersten Minute an. In einer der ersten Szenen ist ein Mord an einer jungen Frau zu sehen. Erbarmungslos und grauenhaft wird die junge Frau erdrosselt, die Kamera filmt während des gesamten Todeskampfes ihr um das Leben ringendes Gesicht. Abbasi kennt kein Pardon, zeigt, was wir nicht sehen möchten.

In seiner expliziten und ohne Vorwarnung dargestellten Brutalität erinnert der Film an Der Goldene Handschuh, wenn auch die Motive der Täter sich stark unterscheiden. Die Inkongruenz, dass der Täter selbst Vater und Ehemann ist und diese Szenen immer wieder dargestellt werden, macht die Taten für das Publikum noch schwerer verständlich - falls es überhaupt so etwas wie Verständnis für solche Verbrechen gibt.

Die voyeuristische Grundhaltung und kleine Lücken in der Story sind zwei Kritikpunkte an dem Film. Er ist knallharte Kost und nicht schön anzusehen, was jedoch nicht der Bildsprache und der Kameraarbeit geschuldet ist, denn diese weiss sehr zu überzeugen. Die nächtlichen Fahrten durch die Stadt bei ohrenbetäubendem Dröhnen und die Kamerafahrt bei der Einblendung des Titels sind sehr ästhetisch inszeniert.

Am Ende bleiben Fragen: welch innerer Hass, welche Gleichgültigkeit oder welche religiöse Verblendung einen Menschen zu seinen Taten antreiben muss; weshalb so viele Frauen ihr Leben lassen müssen, ehe die Behörden aktiv werden; und wie die Korruption und Untätigkeit des Staates so viele Menschenleben fordern kann.

Yannick Bracher [yab]

Yannick ist Freelancer bei OutNow seit Sommer 2015. Er mag (Indie-)Dramen mit Sozialkritik und packende Thriller. Seine Leidenschaft sind Filmfestivals und die grosse Leinwand. Er hantiert phasenweise noch mit einem Super-8-Projektor und lernt die alten Filmklassiker kennen und schätzen.

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Trailer Originalversion, mit deutschen und französischen Untertitel, 01:49