Die letzte Ernte - Alcarràs (2022)

Die letzte Ernte - Alcarràs (2022)

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  3. 120 Minuten

Filmkritik: Familienzusammenhalt

72. Internationale Filmfestspiele Berlin 2022
Für die Jüngsten ist die Welt noch in Ordung.
Für die Jüngsten ist die Welt noch in Ordung. © Lluis Tudela

Alcarràs ist ein bescheidener Ort im spanischen Katalonien. Hier lebt die Grossfamilie Solè von ihrer Pfirsichplantage. Eines Tages informiert sie der Besitzer des Grundstücks, dass er die Verpachtung auflösen möchte und stattdessen Solaranlagen auf dem Land installieren will. Grossvater Rogelio (Josep Abad) ist enttäuscht, hatte er doch mit den Vorfahren des Besitzers ein derart inniges Vertrauensverhältnis. Doch ohne schriftlichen Vertrag ist nichts zu machen, da gelten keine mündlichen Absprachen mehr.

Während sich seine Schwestern und insbesondere sein Schwager (Carles Cabós) langsam mit der Situation anfreunden und nach einer Lösung suchen, bliebt Qumet (Jordi Pujol Dolcet) stur. Bis zum letzten Tag und zur letzten abgelesenen Pfirsich wird er an dem Stück Land festhalten, aus dem er seinen Stolz und sein Selbstwertgefühl speist. Doch es ist ein Kampf als David gegen Goliath. Was es noch bitterer macht ist, dass es in diesem Fall gar keine klaren Bösen gibt, die man zur Rechenschaft ziehen könnte.

Carla Simóns gesellschaftliche Studie und Familienporträt zeichnet sich durch eine feine Beobachtungsgabe sowie eine liebevollen Zeichnung der Protagonisten aus. Der Film beschäftigt sich mit Themen wie dem Verhältnis des Menschen mit der Natur und dem Druck nach konstantem Fortschritt. Er richtet das Augenmerk auf den Alltag authentischer Figuren, die von einem eindrücklichen Darstellerensemble verkörpert werden. Alcarràs ist Emanzipationsgeschichte und politischer Kommentar zugleich, das zudem mit den auf Katalanisch gesprochenen Dialogen eine gewisse exotische Note besitzt.

Die spanische Regisseurin Carla Simón hat eine Tendenz, ihre Geschichten in den Sommer zu verlegen. Dies war bei Summer 1993 bereits so und wiederholt sich nun auch bei Alcarràs. Die sonnendurchflutete Landschaft Spaniens steht in einem Kontrast zu den harten Lebensbedingungen ihrer Protagonisten und ihrem archaischen Umfeld. Alcarràs heisst der Ort, den die Figuren Heimat nennen. Und dieses Konzept der Verbundenheit mit dem Land, auf dem sie leben, spielt eine wesentliche Rolle im Film. Die Familie kümmert sich seit Generationen um die Pfirsichplantage, die sie aus eigener Kraft bewirtschaftt. Sie ernährt sie und aus ihr speisen sie ihr Selbstbewusstsein.

Die Dynamiken in der Familie inszeniert der Film auf authentisch wirkende Weise. Das Drehbuch verzichtet auf das Herausbilden klarer Fronten und versucht vielmehr möglichst unsentimental die Beweggründe aller Figuren nachzuzeichnen. Getragen wird der Film von einem eingespielten, äusserst beeindruckenden Schauspielerensemble.

Durch die dichte Inszenierung führt der Film mit seinem episodischen Aufbau weitgehend mühelos durch die eher lange Dauer von zwei Stunden hindurch. Er bietet den einzelnen Figuren Raum, jeder fühlt man sich auf die eine oder andere Weise verbunden. Gerade dem Mädchen schaut man gerne zu, wie es sich seine Unschuld und Neugierde bewahrt. Diese Figur korrespondiert mit der Protagonistin aus dem Vorgängerfilm der Regisseurin und in gewisser Weise ist auch Alcarràs ein Film übers Erwachsenwerden. Dies betrifft aber auch die bereits erwachsenen Charaktere, die ihren Weg finden müssen, wie sie mit einer sich verändernden Lebenssituation umgehen müssen.

Über die reine beobachtende Perspektive des Films setzt sich Alcarràs mit den Bedingungen der spanischen Landwirtschaft auseinander, die, wie in vielen Ländern, von Rentabilitätsgedanken unter Druck gesetzt wird. Der Film interessiert sich für eine soziale Gruppe und ein provinzielles, auf den ersten Blick unspektakulären Umfeld, die sonst nicht oft hervorgehoben werden.

/ Teresa Vena [ter]

Trailer Spanisch, mit deutschen und französischen Untertitel, 02:02