Aftersun (2022/II)

Aftersun (2022/II)

  1. ,
  2. 96 Minuten

Filmkritik: Ein Sommer mit Papa

47th Toronto International Film Festival
Bequem ist anders.
Bequem ist anders. © Courtesy of TIFF

Die erwachsene Sophie (Celia Rowlson-Hall) schaut sich auf einem alten Camcorder die Aufnahmen an, die sie als junge Teenagerin (Frankie Corio) und ihr Vater Calum (Paul Mescal) während eines gemeinsamen Türkeiurlaubs in den Neunzigern gemacht haben. Die beiden gingen tauchen, machten sich über die Tanzkünste des Hotelpersonals lustig und verputzten ganz viel Essen. Zudem gab Sophie bei einem Singabend REMs «Losing My Religion» zum Besten und freundete sich mit älteren Teenagern in der Hotelanlage an.

Je länger Sophie auf diese Zeit zurückgeschaut, desto mehr wird ihr bewusst, wie ihr Vater mit irgendetwas zu kämpfen hatte. War es die Scheidung von Sophies Mutter? Oder drückte der Schuh ganz woanders? Sophie versucht sich einen Reim auf das Ganze zu machen - ohne die Hoffnung, je eine abschliessende Antwort auf ihre Frage zu finden. Alles, was ihr bleibt, sind die Videoaufnahmen auf dem Camcorder und ihre Erinnerungen.

Aftersun ist ein Film, der sich eher über ein bestimmtes Gefühl definiert als über eine wirkliche Handlung. Regisseurin Charlotte Wells anerkennt mit ihrem Film, wie trügerisch Erinnerungen sein können und wie wir uns auch gerne selber betrügen. Dabei vermischt sie alles andere als offensichtlich Dinge, die die Protagonistin Sophie erlebt hat und solche, die sie sich womöglich nur ausmalt. Ein faszinierender Film, der sich aber auch immer wieder etwas in seinem Sommerferiensetting verliert.

Wie viel wissen wir als Kinder eigentlich von den Leiden unserer Eltern? Was sie alles durchmachen, um uns ein möglichst sorgenfreies Leben zu ermöglichen, wird den meisten Menschen erst im Erwachsenenalter richtig bewusst - oder nach der Geburt des eigenen Nachwuchses. In Charlotte Wells' Langfilmdebüt Aftersun versucht eine Frau nur anhand schwammiger Erinnerungen die Leiden ihres Vaters zu verstehen. Wells ist in der Herangehensweise sehr konsequent. Wirklich deutlich wird sie in ihrer Geschichte nicht, vieles bleibt vage - und wird so sicher einige frustrieren.

Wells geht es ohnehin nicht um das Erzählen einer klassischen Geschichte mit Anfang, Mittelteil und Schluss. Alles fliesst in einem Fluss aus Videoaufnahmen, Erinnerungen und Wunschvorstellungen ineinander, aus dem sich das Publikum selber einen Reim machen muss. Hilfestellungen gibt es fast keine. In einer Sequenz ist der Queen/Bowie-Song «Under Pressure» zu hören, dessen Songtext durchaus als Schlüssel funktionieren könnte. «Könnte» ist dabei entscheidend. Aftersun ist eine Art Puzzle, das man nach eigenem Gutdünken zusammenbauen kann.

Den von Normal People-Star Paul Mescal gespielten Papa scheinen kleinere oder grössere Geldsorgen zu plagen - oder auch nicht, wenn wir ihn dann doch einen teuren Teppich kaufen sehen. Hat dies Sophie wirklich mit eigenen Augen gesehen oder versucht sie jetzt Jahre später, in ihrem Kopf ein weniger deprimierendes Bild ihres Vaters zu zeichnen? Immer wieder gibt es kurze Szenen in einem Club, in dem die erwachsene Sophie tanzt und wegen des blinkenden Lichts immer nur kurz ihren Vater auf der Tanzfläche sieht. Am Ende sind es auch im echten Leben nur ganz kurze Momente, die uns von unseren Mitmenschen bleiben.

So faszinierend das vielleicht klingen mag: Der Film ist trotz einer relativ kurzen Spielzeit von 96 Minuten nicht ohne Längen. Grosse Teile des Filmes zeigen einfach das Herumgammeln in den Sommerferien, was auf Dauer dann eben dann doch nicht so spannend mitzuverfolgen ist. Aftersun ist ein Film, auf dessen Erzähltempo man sich vollkommen einlassen muss. Wer das nicht schafft, verbringt lange Minuten. Ein Film, dessen Stärken sich erst nach dem Abspann offenbaren.

Chris Schelb [crs]

Chris arbeitet seit 2008 für OutNow und leitet die Redaktion seit 2011. Seit er als Kind in einen Kessel voller Videokassetten gefallen ist, schaut er sich mit viel Begeisterung alles Mögliche an, wobei es ihm die Filmfestivals in Cannes und Toronto besonders angetan haben.

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