Rien à foutre (2021)

Rien à foutre (2021)

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  3. 115 Minuten

Filmkritik: Nobody cares about you

Leben, wo andere Urlaub machen
Leben, wo andere Urlaub machen © Outside the Box

Cassandre (Adèle Exarchopoulos) steckt mitten in ihren Traum vom Jetset-Leben. 10'000 Fuss über dem Alltag lernt sie täglich neue Leute kennen, genehmigt sich auch mal einen Cocktail und sorgt zugleich für sichere Flüge. Die junge Französin arbeitet für die Billigfluglinie Wings und bereist von Teneriffa aus ganz Europa. Doch eigentlich würde sie lieber zu exotischen Orten wie Dubai reisen und Abenteuer im Dünenmeer erleben. Stattdessen warten abends nur die dröge Wohngemeinschaft und die immer gleiche Disco auf der Ferieninsel.

Technopartys auf Ecstasy, ich steh drauf
Technopartys auf Ecstasy, ich steh drauf © Outside the Box

Doch am Ende ist Cassandre zufrieden mit dem Leben in der Gegenwart. Schlecht bezahlt bei noch schlechteren Arbeitsbedingungen hat Wings ihr doch ein Ziel erfüllt: die Flucht von zu Hause. In der französischen Kleinstadt warten Vater Jean (Alexandre Perrier), Schwester Mélissa (Mara Taquin) und eine tote Mutter. Der Kontakt ist schmal, das Trauma noch längst nicht verarbeitet. Wenn sie doch nur bei einer richtigen Airline arbeiten könnte, würde schon alles besser werden.

Rien à foutre zeigt das einsame Leben einer jungen Stewardess im Kontrast zwischen Arbeitsalltag und Partynächten. Problematische Arbeitsstrukturen und monotone Abläufe werden dabei von Adèle Exarchopoulos kommentarlos ertragen. Die französische Schauspielerin ist dabei das Highlight des Films, der sich trotz zahlreicher durchdachter Szenen oft dröge anfühlt.

Dass die Freiheit über den Wolken grenzenlos sein muss, besang Reinhard Mey schon in den Siebzigerjahren. Ein Raum frei von Ängsten und Sorgen. Natürlich hätte damals niemand die Entwicklung vom stilvollen Reisemittel hin zum modernen Viehtransporter vorhersehen können. Ausbeuterbetriebe wie eine gewisse irische Fluglinie befinden sich im ständigen Preiskampf, dessen Druck letztendlich auch beim eigenen Personal ankommt.

Bei Wings werden die Stewards und Stewardessen ständig an ihre Verkaufsraten erinnert, müssen sich täglich gegenseitig bewerten und sogar ausspionieren, damit ja niemand gegen eine Regel verstösst. Die Sicherheit geht schliesslich vor im Luftverkehr, aber genauso wichtig wie eine sichere Landung ist eben auch verkauftes Parfüm aus dem Duty-free-Sortiment.

Cassandre ist dem Ruf der Freiheit gefolgt, wie so viele junge Frauen, die für ein paar Jahre Reisen und Arbeit miteinander verbinden wollen. Freundlich lächeln, Orangensaft ausschenken und dann am Abend eine neue Metropole entdecken. Jede neue Drangsalierung von ihrem Vorgesetzten wird schweigend entgegengenommen - sie möchte doch einfach nur ihren Job machen. Rien à foutre zeigt uns all die typischen Szenen im Leben einer Stewardess, als wäre es ein Pflichtprogramm. Aufgelockert wird es ab und zu durch eine ansehnliche Rollfeldfahrt in der Abendsonne oder einen musikalisch unterlegten Longtake auf dem Rollband. Sonst ist Cassandres Arbeitsalltag bewusst in allen Aspekten beengt und kalt gehalten. Man versteht nicht, warum sie so an ihrem Job hängt.

Mit der täglichen Rückkehr nach Teneriffa wird es zwar nicht weniger einsam, aber zumindest formal bricht der Film hier auf. Im Klub rückt die Kamera noch näher an unsere Protagonistin heran. Ungeschminkt und ohne Uniform wird Cassandre verletzlich und verliert tatsächlich mal einen Satz über ihre Gefühle - auch wenn die richtige Ansprechperson dafür fehlt. Die Intimität des Hotelzimmers erinnert dank Beleuchtung und Kameraführung an ein Heimvideo. Nur fünf Minuten möchte Cassandre nach dem One-Night-Stand nicht alleine sein, ein einfacher und tragischer Wunsch.

Es sind diese wenigen Szenen, die unsere Protagonistin interessant machen, die einen Blick unter die Oberfläche gewähren. Denn ansonsten könnte Cassandre nicht gewöhnlicher sein, stellvertretend für eine Generation, die ihren gesamten Abend auf Instagram verbringt. Adèle Exarchopoulos spielt dabei in allen Nuancen so überzeugend, dass man die Schauspielerin vergisst und nur noch die Figur sieht. Mangels Gesprächspartner:innen ist es oft ein Spiel mit der Kamera.

Doch all die Darstellung von Oberflächlichkeit und Passivität fällt Rien à foutre letztendlich auf die Füsse. Die blosse Aufzählung der Missstände der Billigairline ist uninteressant, vor allem wenn sich nicht mal die Protagonistin dafür interessiert. Selbst die Rückkehr ins Elternhaus zeigt uns nur vor, dass Cassandre geflohen ist. Das Warum bleibt allerdings wie ein Eisberg unter der Oberfläche. Immerhin kann man es als kleines Kunststück auffassen, wenn ein Film bis zu seiner letzten Einstellung wartet, um etwas Hoffnung zu vermitteln. Sei es nun auf eine Weiterentwicklung oder einen Abschluss.

Sven Martens [sma]

Sven schreibt seit 2015 als Freelancer bei OutNow. Seine Sehnsucht nach Amerika reicht von Martin Scorseses New York über die weiten Steppen von John Ford bis hin zu Howard Hawks' Traumfabrik in Hollywood. In seiner Freizeit guckt er gerne Filme von Éric Rohmer.

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Trailer Französisch, mit deutschen Untertitel, 01:52