Petrov's Flu (2021)

Petrov's Flu (2021)

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  3. 145 Minuten

Filmkritik: Fiebertraum in Jekaterinburg

74e Festival de Cannes 2021
Nächster Halt: Irrenanstalt!
Nächster Halt: Irrenanstalt! © Hype Film

Der Automechaniker und Comicbuchzeichner Petrov (Semyon Serzin) leidet an einer Grippe. Während er im vollgestopften Bus durch die dunklen Strassen Yekaterinburgs fährt, hustet er wie wild durch die Gegend und beunruhigt damit seine Sitznachbarn. An einer Haltestelle wird er von einem Polizeikommandanten aus dem Bus beordert. Draussen wird ihm ein Maschinengewehr in die Hand gedrückt, und zusammen mit einer Gruppe von Polizisten erhält er den Befehl, eine elegant gekleidete Gruppe, womöglich Staatsabgeordnete, zu exekutieren.

Ein Schluck Wodka für die schnelle Genesung
Ein Schluck Wodka für die schnelle Genesung © Hype Film

Kaum zurück im Bus angelangt und weitergefahren, wird Petrov erneut rausgeholt. Diesmal ist es ein alter Freund, der ihn mit einem Bestattungsauto abholt, um gemeinsam feiern zu gehen. Und so ereignisreich wie Petrovs Nacht begonnen hat, geht sie weiter, während er in seinem fiebrigen Zustand zu verstehen versucht, was Realität und was Halluzination darstellt. Seine Ehefrau (Chulpan Khamatova) befindet sich in einer ähnlichen Verfassung und hat ebenso eigenartige Erlebnisse bei der Arbeit in der Bibliothek. Und Petrovs ebenfalls erkrankter Sohn will unbedingt an die Party in der Nachbarschaft, an der Schneewittchen den Kindern eine schöne Zeit beschert.

Kirill Serebrennikovs (Leto) neuer Film fährt ein wie ein Drogentrip! Petrov's Flu bietet ein traumartiges Filmerlebnis, in dem das Erzählte nur schwer nachzuvollziehen ist. Der Film enthält zahlreiche Metaphern auf das Leben in Russland sowie nostalgische Momente. Während die erkrankte Hauptfigur halluziniert, springt die Handlung unüberschaubar umher. Zudem werden mehrere Handlungsstränge parallel erzählt und regelmässig wird die Perspektive gewechselt. Wer mit der unkonventionellen Erzählweise zurechtkommt, wird mit originellen, teilweise schockierenden und humorvollen Traumsequenzen belohnt.

Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov wurde kürzlich von einem 20-monatigen Hausarrest entlassen, den er wegen einer Veruntreuungsanklage absitzen musste. Er ist bekannt dafür, nicht vor Kritik an den politischen Machthabern seines Heimatlandes zurückzuscheuen. In seinem letzten Werk Leto warf Kirill Serebrennikov einen nostalgischen Blick auf die Underground-Musikszene der Sowjetunion in den Achtzigerjahren. Und auch sein neustes Werk Petrov's Flu enthält sowohl nostalgische Momente als auch regierungskritische Statements.

Sein Film hat die Wirkung eines gigantischen Fiebertraums, den die ganze Familie Petrov erlebt. Diverse Handlungsstränge werden parallel erzählt und so kommt es regelmässig zu Perspektivenwechseln. Der Geschichte zu folgen, die einzelnen Erzählfragmente zuzuordnen und einen Sinn dahinter zu erkennen, ist alles andere als einfach.

Den Haupthandlungsstrang bildet jener des Vaters der Familie, phänomenal verkörpert von Hauptdarsteller Semyon Serzin. Das unangenehme Gefühl, das sein Gesundheitszustand verursacht, macht er mit seinem Schauspiel regelrecht spürbar. Und das Publikum lässt er ebenso verblüfft zurück wie die Figur, die er verkörpert, während er die surrealen Geschehnisse erlebt. Doch auch die Erlebnisse seiner Frau sind kurios und verstörend. Während ihrer Arbeit in der Bibliothek mutiert sie zu einem übernatürlichen Wesen mit Superkräften und verprügelt den Teilnehmer einer Lesung, weil sie dessen ungehobelte Verhaltensweise nicht duldet.

Visuell wird das Erzählte auf grossartige Weise mit einer düsteren, kalten Atmosphäre unterstützt. Und die Mischung aus punkrockigen russischen Songs und ruhiger, verträumter Musik untermalt die Bilder ebenfalls passend.

Gianluca Izzo [gli]

Gianluca ist seit 2013 als Freelancer für OutNow tätig. Er liebt es, verborgene Perlen an Filmfestivals zu entdecken, insbesondere in Venedig. Neben seinem Faible für italienische und skandinavische Filme bewundert er die Werke von Scorsese, Lynch, Villeneuve und Chazelle sowie die Bond-Klassiker.

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Trailer Originalversion, mit deutschen und französischen Untertitel, 01:37