Olga (2021/II)

Olga (2021/II)

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  3. 85 Minuten

Filmkritik: Mehr als nur Medaillen

74e Festival de Cannes 2021
Der Ratschlag «Du musst einfach loslassen können!» ist nicht immer gleich sinnvoll.
Der Ratschlag «Du musst einfach loslassen können!» ist nicht immer gleich sinnvoll. © Studio / Produzent

2013: Die 15-jährige Ukrainerin Olga (Anastasia Budiashkina) ist eine der besten Kunstturnerinnen ihres Landes und bereitet sich auf die kommende Europameisterschaft in Stuttgart vor. Doch als sie zusammen mit ihrer Mutter (Tanya Mikhina), einer regierungskritischen Journalistin, in einen Hinterhalt gerät und nur knapp dem Tod entkommt, ist das Leben in Kiew für sie nicht mehr sicher. So schickt ihre Mutter sie in die Schweiz, das Heimatland ihres verstorbenen Vaters. Dort ist der Turnverband nur zu interessiert, die junge Frau einzubürgern, damit sie künftig unter der rotweissen Flagge auf Medaillenjagd gehen kann.

Hopp Schwiiz!
Hopp Schwiiz! © Studio / Produzent

So trainiert Olga fortan im Sportzentrum Magglingen oberhalb von Biel. Doch das Leben in der Schweiz ist nicht einfach für die Ukrainerin. Nicht nur die Sprache, sondern auch kulturelle Differenzen und neidische Konkurrentinnen erschweren der ehrgeizigen jungen Sportlerin das Leben. Noch schlimmer wird es, als in ihrem Heimatland Unruhen auftreten und sich die Menschen gegen die Regierung aufzulehnen beginnen. Tausende von Kilometern entfernt muss sie hilflos mitanschauen, wie die Proteste in Kiew blutig eskalieren - und mittendrin: ihre Mutter und ihre beste Freundin.

Wenn Sport auf Politik trifft: Eingebettet in die Geschehnisse in der Ukraine 2013 erzählt Elie Grappe in seinem Debütfilm die Geschichte einer jungen Sportlerin und ihrem Konflikt zwischen zwei Welten. Die in fast jeder Szene präsente Hauptdarstellerin Anastasia Budiashkina spielt dies souverän und verleiht der manchmal maskenhaft wirkenden Sportlerinnen-Fassade ein menschliches Antlitz. Trotz einiger Story-Schwächen ist Olga ein lohnenswerter Ausflug hinter die Kulissen des Spitzensportes.

Handelt es sich nicht gerade um Skirennen oder Fussball, werden (Spitzen-) Sportarten in der Schweiz meist erst dann ein Thema in der Öffentlichkeit, wenn eine Sportlerin oder ein Sportler in der betreffenden Sportart so gut ist, um an internationalen Titelkämpfen ganz vorne mitzumischen. Eine Topathletin wie Olga hätte das Schweizer Publikum sicherlich nur zu gerne als eine der ihren ins Herz geschlossen.

Umgekehrt ist das etwas schwieriger. Und genau das zeigt der Franzose Elie Grappe in seinem Debütfilm. Einen grossen Teil der Szenen hat er dabei im Sportzentrum Magglingen gefilmt - inklusive echter Schweizer Turnerinnen in den Nebenrollen. Im Zentrum steht jedoch eine Ukrainerin: Auch Anastasia Budiashkina ist im echten Leben keine Schauspielerin, sondern eine professionelle Turnerin. Um so erstaunlicher ist es, wie gut es ihr gelingt, die Gefühlswelt ihrer Protagonistin hinter den unnahbar-verbissenen Gesichtszügen deutlich zu machen.

Auch wenn die Story fiktiv ist, so gelingt Elie Grappe mit diesem Film doch ein glaubhafter Blick hinter die Erfolgsstory einer neu-schweizerischen Spitzensportlerin. Nicht nur ist es spannend, den harten Trainingsalltag der Turnerinnen in Magglingen mitzuverfolgen, gleichzeitig zeigt der Film auch die Geschichte, die zu einer solchen sportbedingten Einbürgerung führen kann. Und die ist in diesem Fall auch die Geschichte einer jungen Frau im Zwiespalt zwischen den schrecklichen Ereignissen in ihrem Heimatland und dem kontrollierten Sportlerinnenalltag.

Indem er die Ereignisse in der Ukraine im Jahr 2013 mit Olgas Geschichte verknüpft, hat der Film auch einen politischen Einschlag. Auf dieser Ebene ist er nicht immer ganz überzeugend. Olgas Mutter, die regierungskritische Journalistin, wirkt dabei ein wenig überzeichnet. Und dass sich die Ereignisse gegen Ende des Filmes überschlagen, ist zwar dramaturgisch nachvollziehbar, verleiht dem Film aber eine Hektik, die ihm eigentlich gar nicht so gut steht.

Denn die stärksten Momente in Olga sind die ruhigen, die auf das Menschliche fokussieren. Diejenigen, in denen die in sich gekehrte Olga verbissen und allein in der grossen Trainingshalle ihre Übungen wieder und wieder repetiert - und dies trotz riesiger Schmerzen; diejenigen, wo sie sich an das ungewohnte Umfeld akklimatisieren muss und sich dabei trotz hervorragender Infrastruktur allein und verloren vorkommt; oder diejenigen, als sie eine Beziehung mit einer ihrer Schweizer Mitstreiterinnen aufzubauen versucht. Hier ist der Film ein feines Charakterdrama, der politische Kontext verleiht ihm dabei den nötigen Schuss Relevanz. Alles Aspekte, die in den Direktübertragungen am Fernsehen kaum je zum Tragen kommen. Und doch zeigen, wie viel Entbehrungen hinter strahlenden Medaillenmomenten stecken.

Simon Eberhard [ebe]

Aufgewachsen mit Indy, Bond und Bud Spencer, hatte Simon seine cineastische Erleuchtung als Teenager mit «Spiel mir das Lied vom Tod». Heute tingelt er durch Festivals und mag Krawallfilme genauso wie Artsy-Farts. Nur wenn jemand einen Film als «radikal» bezeichnet, rollt er genervt mit den Augen.

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Trailer Originalversion, mit deutschen und französischen Untertitel, 01:28