L'événement (2021)

L'événement (2021)

  1. 100 Minuten

Filmkritik: Eine einsame Entscheidung

78. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica 2021
«I keep dancing on my own.»
«I keep dancing on my own.» © Studio / Produzent

Frankreich, 1963. Die Literaturstudentin Anne (Anamaria Vartolomei) steht kurz vor dem Abschluss. Das Studium ist für sie auch ein Weg, der Arbeiterklasse zu entkommen und sozial aufzusteigen. Doch nach einer Nacht mit einer flüchtigen Bekanntschaft bleibt ihre Regel aus. Annes Arzt bestätigt ihr schliesslich ihre grösste Angst: Sie ist schwanger.

«Komm zu Mama!»
«Komm zu Mama!» © Studio / Produzent

Für Anne ist sofort klar, dass sie das Kind nicht behalten möchte. Doch Abtreibung steht im Frankreich der Sechzigerjahre unter Strafe. Während die Prüfungen immer näher rücken und die Schwangerschaft voranschreitet, sucht Anne verzweifelt nach einem Ausweg. Hilfe vom zukünftigen Vater oder ihren Freundinnen kann sie dabei nicht erwarten. Zu gross ist deren Angst, selbst im Gefängnis zu landen, wenn sie Anne helfen. Die junge Studentin greift in ihrer Verzweiflung zu drastischen Mitteln, um die Schwangerschaft abzubrechen. Die könnten sie nicht nur die Freiheit sondern auch das Leben kosten.

L'Événement ist ein ruhig erzähltes Abtreibungsdrama, das im Laufe seiner Spielzeit an Intensität gewinnt und bei dem man bis zur letzten Minute mit Anne mitleidet. Der Film ist von Momenten der Stille geprägt und kommt ohne grosse dramatische Szenen aus, konfrontiert die Zuschauer aber zugleich mit einigen erschreckenden Bildern, die man so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommt.

Die Autorin Annie Ernaux ist für ihre autobiografischen Werke bekannt und gehört in Frankreich zu den renommiertesten Autorinnen der Nachkriegszeit. Ihr im Jahr 2000 erschienener Roman «L'Événement» erzählt von ihrer ungeplanten Schwangerschaft in den Sechzigerjahren und von der illegalen Abtreibung, die Ernaux fast das Leben gekostet hätte. Regisseurin Audrey Diwan adaptiert hier Ernaux' Geschichte, die auch nach knapp sechs Jahrzehnten nicht an Relevanz eingebüsst hat.

L'Événement gesellt sich damit thematisch zu Filmen wie Vera Drake und 4 Months, 3 Weeks & 2 Days, die sich mit dem Abtreibungsverboten in den Fünfziger- beziehungsweise Sechzigerjahren und den Schicksalen, die damit einhergehen, befassen. Der Film urteilt nicht; weder über Anne noch über ihre Mitmenschen, die nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten wollen oder deren Glaubenssätze schlicht nicht mit einem Schwangerschaftsabbruch vereinbar sind. Für die meisten der Charaktere ist das Thema ein Tabu und so fällt der Begriff «Abtreibung» im Film kein einziges Mal.

Mit der ungewollten Schwangerschaft verliert die sexuell selbstbestimmte Anne die Kontrolle über ihren Körper und damit über ihre Zukunft. Die Zeit läuft gegen sie, doch von ihrem Umfeld kann sie keine Unterstützung erwarten. In Zwischentiteln wird die jeweilige Schwangerschaftswoche angezeigt. Mit jeder Woche, die vorbeizieht, wächst Annes stille Verzweiflung. Da sie auch von ihrem Arzt keine Hilfe erwarten kann, greift die Studentin zu extremen Mitteln, die auch das Publikum herausfordern. So versucht sie zum Beispiel, den Fötus mit einer Stricknadel loszuwerden.

Regisseurin Diwan und Kameramann Laurent Tangy konfrontieren die Zuschauer in diesen Szenen mit einer brutalen Form der Intimität, inklusive einiger erschreckender Bilder, die lange nachhallen. Erscheint ihr Charakter emotional distanziert, sind die Zuschauer ganz nah dran an Anne und ihrem Körper. Ihr Schmerz ist spürbar, selbst wenn einige der extremsten Momente der Imagination überlassen werden.

Die Kamera weicht dann auf Annes Gesicht aus, ihr Atem beschleunigt sich vor Schmerz und Angst, und obwohl in manchen Szenen das Schlimmste nicht zu sehen ist, möchte man doch am liebsten wegschauen. Dies ist auch der Leistung von Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei zu verdanken, die die Rolle mit stoischer Intensität spielt.

Seit 1975 sind Abtreibungen in Frankreich legal und dennoch keine Selbstverständlichkeit. Bei unseren Nachbarn bleibt Abtreibung ein höchst kontrovers diskutiertes Thema. Umso wichtiger, dass Geschichten wie die von Anne in all ihrer Komplexität erzählt werden.

Swantje Oppermann [swo]

Swantje ist seit 2013 Teil der OutNow-Crew. Zu ihren Lieblingen gehören «Jurassic Park», «When Harry Met Sally» und «Se7en». Bei «Titanic» muss sie noch heute heulen. Das Filmfestival Venedig liebt sie nicht nur wegen der Filme, sondern auch, weil dort der Aperol Spritz in rauen Mengen fliesst.

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rm

«Das Abtreiben ist in jenen Jahren in Frankreich illegal, und so beginnt für die Figur im Roman wie im Film (und die Autorin damals) ein Spiessrutenlauf, der mit Demütigungen und Stigmatisierungen gepflastert ist. Annie Ernaux erzählt eine singuläre Geschichte, die universeller nicht sein könnte. Sie steht exemplarisch für die Geschichten all jener Frauen, denen beigebracht wurde und eben in sehr vielen Regionen der Welt immer noch beigebracht wird, sich zu schämen, zu schweigen, einen Fehler gemacht zu haben und einer zu sein. Der Film spielt vor über fünfzig Jahren und könnte aktueller nicht sein.»

Lena Gorelik in der NZZ.

swo

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Trailer Französisch, mit deutschen Untertitel, 02:03