Filmkritik: Nicht ganz Dichter

74e Festival de Cannes 2021
Teambuilding-Event in der Gangsterszene.
Teambuilding-Event in der Gangsterszene. © David Koskas - Single Man Productions

Jeff (François Damiens) ist ein Gangsterboss. Aber ein sensibler. Er schreibt Gedichte für eine hübsche Supermarkt-Kassiererin, in die er heimlich verliebt ist. Eigentlich ist er seit 25 Jahren verheiratet, doch in der Ehe mit der depressiven Katia (Valeria Bruni Tedeschi) läuft nicht mehr viel. Und die gemeinsame Tochter Jessica (Raphaëlle Doyle) ist in der Schule eine Aussenseiterin, so dass Papas Gangmitglieder bei ihren Mitschülern zu sanftem Druck greifen müssen, damit überhaupt jemand auf ihrer Geburtstagsparty auftaucht.

Axt. Find your magic.
Axt. Find your magic. © 2021 SINGLE MAN PRODUCTIONS-UGC IMAGES-JM FILMS-GAPBUSTERS-RTBF-PROXIMUS-BE TV-PICTANOVO

Jacky (Gustave Kervern), ein Mitglied von Jeffs Bande, treibt derweilen die Schulden bei einem unehrlichen Buchhalter ein, muss jedoch feststellen, dass dieser bereits ohne sein Einwirken das Zeitliche gesegnet hat. Stattdessen trifft er auf dessen Ehefrau Suzanne (Vanessa Paradis), die besessen von der Idee ist, ein Musical über Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir aufzuführen. Da ihr Ehemann soeben verstorben ist, sucht sie einen neuen Sartre-Darsteller. Das bringt Jacky, der heimlich ein Auge auf Suzanne geworfen hat, auf eine Idee.

Nicht nur Parodie, sondern auch Poesie. Cette musique ne joue pour personne ist zunächst einfach mal lustig und für alle empfehlenswert, die schwarzen Humor lieben. Gleichzeitig gelingt es Samuel Benchetrit aber auch, eine Feinfühligkeit auf die Leinwand zu bringen, die man bei einem Film dieses Genres nicht unbedingt erwartet hätte. Eine wunderbare kleine Filmperle.

Für einmal ist der englische Übersetzungstitel etwas vielsagender als der Originaltitel. Cette musique ne joue pour personne heisst in Shakespeares Sprache «Love Song for Tough Guys». Dies deutet ein bisschen klarer an, in welche Richtung der Film von Samuel Benchetrit geht. Er bezieht nämlich einen Grossteil seiner Komik aus dem Kontrast zwischen den «Tough Guys» und dem Feingeist der schönen Künste. Harte Jungs, weicher Kern, sozusagen.

Das ist freilich nichts Neues. Bereits vor über 20 Jahren nutzte Robert DeNiro in Analyze This und Analyze That die Rolle als Mobster mit Gefühlen, um auf seine älteren Tage aufs Kömödienfach umzusatteln. Der grosse Unterschied zu diesen und ähnlich gestrickten Filmen ist allerdings, dass Benchetrit einen Schritt weitergeht. Ja, auch Cette musique ne joue pour personne ist in erster Linie eine Komödie, doch schwingt in dem Film auch immer ein Schuss Melancholie mit, eine Wärme, die den Film eben zu mehr macht als nur zum Lachfest.

In dieser Hinsicht knüpft Benchetrit an seinen früheren Film J'ai toujours rêvé d'être un gangster an. Das betrifft nicht nur die eposidenhafte Erzählweise, die beiden Filmen gemein ist. Hier wie dort beweist der Regisseur auch hervorragendes Gefühl für eine stimmungsvolle Inszenierung. Und der feine Cast - mit Vanessa Paradis, Bouli Lanners, Bruno Podalydès oder Gustave Kervern sind ein paar bekannte Gesichter des französischen Kinos mit dabei - dankt es ihm mit einer tollen Ensembleleistung.

Insbesondere erwähnenswert ist die italienische Regisseurin und Schauspielerin Valeria Bruni Tedeschi, die in der Rolle der abgelöschten Katia quer gegen ihr Image der überdrehten Dauerquasslerin besetzt worden ist. Gerade ihre Figur zeigt exemplarisch, was typisch ist für den ganzen Film: Trotz aller Komik steckt auch eine Traurigkeit in ihr. Und dieser Mix zwischen Humor und Ernsthaftigkeit, ohne dabei ins Sentimentale abzudriften, macht den Fim erst reizvoll.

Wieder stärker in Richtung Strapazieren der Lachmuskeln geht dann hingegen der Handlungsstrang mit Paradis und Kervern und dem abstrusen Sartre-de-Beauvoir-Musical, das die beiden einproben. Davon wünscht man sich am liebsten ein Spinoff. Obwohl hochnotpeinlich, grotesk und mit hohem Fremdschämfaktor, wirkt die Ernshaftigkeit, mit der die Beteiligten daran arbeiten, beinahe rührend. Cette musique ne joue pour personne ist ein Film der Widersprüche, doch gerade die Widersprüche machen das Leben spannend.

Simon Eberhard [ebe]

Aufgewachsen mit Indy, Bond und Bud Spencer, hatte Simon seine cineastische Erleuchtung als Teenager mit «Spiel mir das Lied vom Tod». Heute tingelt er durch Festivals und mag Krawallfilme genauso wie Artsy-Farts. Nur wenn jemand einen Film als «radikal» bezeichnet, rollt er genervt mit den Augen.

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