Suot tschêl blau (2020)

Suot tschêl blau (2020)

Under Blue Skies
  1. 70 Minuten

Filmkritik: Doktor Schiwago in Samedan

56. Solothurner Filmtage 2021
Für einmal ist der Himmel im Engadin voller Wolken
Für einmal ist der Himmel im Engadin voller Wolken © Outside the Box

Das Heroin schleicht sich in den Achtzigerjahren in die Schweiz ein. So auch ins Oberengadin, wo unter blauem Himmel die Drogen die Gesellschaft in Samedan spalten. Der Dorfplatz in Samedan wird zum Treffpunkt der Engadiner Jugendlichen wie Rolli, Figi, Carli, Herbi, Roger oder Charli. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind viel zu früh verstorben. Sei es bei Autounfällen, an Drogen oder an Desillusion.

Andrea Clavadetscher schaut zu den schneebedeckten Bergen
Andrea Clavadetscher schaut zu den schneebedeckten Bergen © Outside the Box

Über die grassierende, fast epidemiehafte Drogenproblematik im Dorf wurde lange Zeit der Mantel des Schweigens gelegt. Diese Doku versucht den Mantel zu lüften. Aber auch noch Jahrzehnte später fällt es den Hinterbliebenen wie beispielsweise Andrea Clavadetscher und Monika Ramponi schwer, über ihre Verluste und das Tabuthema Drogen zu sprechen.

Die Dokumentation Suot tschêl blau von Regisseur Ivo Zen ist atemberaubend. Die gezeigten Panoramabilder zeigen die ganze Schönheit des Engadins, lassen aber gleichzeitig auch eine gewisse Verlorenheit erahnen. Durch die Schilderungen der verschiedenen Protagonisten erfährt die Ahnung eine Bestätigung. Und zwar so eindrücklich, dass es einem fast das Herz zerreisst.

In Suot tschêl blau befasst sich Regisseur Ivo Zen wieder mit dem Thema Drogen. Bereits in seinem letzten Film Zaunkönig - Tagebuch einer Freundschaft war dies das zentrale Thema. Der Ort des Geschehens ist, wie immer in seinen letzten Filmen, der Kanton Graubünden und die Bergtäler.

Das Thema ist immer noch tabu. Man merkt dies an den einzelnen Wortmeldungen im Restaurant «Zum Weissen Kreuz» - damals einem Treffpunkt der Abhängigen. Die Stimmung scheint ausgelassen. Doch bei genauem Hinhören spürt man in jedem Satz den Schmerz. Denn fast jeder der Gäste hat einen Angehörigen, einen Freund verloren. Beim Betrachten von alten Fotos und dem Zuhören der Schilderungen der Hinterbliebenen tut es fast körperlich weh. Dazwischen werden immer wieder schöne Landschaftsbilder gezeigt. Der Dorfplatz wird gezeigt, der einst besetzt wurde. Es wird aus «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» vorgelesen. Die Berichte über die verlorenen Söhne, über verlorene Freunde sind herzzerreissend.

Und dem Film gelingt es auch sehr gut, die Gefühle der damaligen Jugendlichen bestmöglich zu zeigen. Immer auf der Suche nach etwas, am Streben nach Höherem. Auf der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft. Zum Glück kommt im Film auch immer wieder ein Paar zu Wort, das den Drogen-Wahnsinn überlebt hat. Das gibt den Zuschauern immer mal wieder eine kurze Atempause.

Glücklicherweise dauert der Film nur 70 Minuten. Nicht etwa weil der Film nicht gelungen wäre. Sondern weil er vor lauter Traurigkeit kaum auszuhalten ist.

Christoph Reiser [chr]

Christoph arbeitet seit 2020 als Freelancer für OutNow. Er weiss, dass man Animationsfilme nicht hassen darf, dafür liebt er Sergio-Leone-Western. Der Besuch eines Filmfestivals ist zuoberst auf seiner Bucket-List, naja fast. Und er mag kein Popcorn im Kino, denn er steht auf Chips.

  1. Artikel
  2. Profil
  3. facebook
  4. Twitter
  5. Instagram
  6. Letterboxd

Trailer Originalversion, mit deutschen Untertitel, 02:00