Here We Are (2020)

Here We Are (2020)

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  2. 94 Minuten

Filmkritik: Mind the snails on the road

16. Zurich Film Festival 2020
I want to ride my bicycle ...
I want to ride my bicycle ... © Agora Films

Uri (Noam Imber) ist Autist. Der junge Mann lebt bei seinem Vater Aharon (Shai Avivi) in einem kleinen Haus. Das Leben und die Alltagsroutine sind den beiden bekannt, was für Uri äusserst wichtig ist, denn schon kleinste Abweichungen davon können ihn in eine veritable Krise manövrieren. Mit viel Verständnis und grossem Einfühlungsvermögen kümmert sich Aharon um seinen Sohn. Zwischendurch schaut Uris Mutter Tamara (Smadar Wolfman) vorbei, bringt ihm neue Shirts oder nimmt ihn mit in eine Institution. Denn Uri soll umziehen, in eine spezialisierte Institution, wo er fachmännisch betreut wird. Vorsorglich, da sich Aharon nicht ewig um seinen Sohn wird kümmern können.

Aharon hingegen hat starke Zweifel, dass die Institution die richtige Unterbringung für Uri ist. Als sich Vater und Sohn mit dem Zug auf den Weg dorthin machen, erleidet Uri unterwegs eine Krise und ist kaum noch zu beruhigen, da er nicht wegziehen will. Dies veranlasst Aharon dazu, mit Uri einen Roadtrip durch Israel zu starten, entgegen den vorgesehenen Plänen von Tamara. Auf ihrem Trip erleben Uri und Aharon schöne, aber auch anstrengende Momente, welche auch Aharon langsam an der Fürsorgepflicht für seinen Sohn zweifeln lassen. Nur, was ist effektiv das Beste für Uri? Und wer kann und soll dies entscheiden?

Das israelische Drama Here We Are nähert sich der Thematik Autismus an und taucht sehr wirklichkeitsnah in sie ein. Es zeigt Handlungs- und Verhaltensweisen, wie sie in der Realität bei Menschen mit Autismus vorkommen. Dabei herrscht eine wunderbare Grundchemie zwischen den beiden Hauptdarstellern, welche authentisch agieren und harmonieren. Durch eine angenehme Mischung aus Witz und Tragödie spricht der Film unterschiedlichste Stimmungslagen an und bleibt so stets unterhaltsam und mitreissend.

In Nir Bergmans Here We Are geht es um einen Vater, welcher zu seinem autistischen Sohn schaut. Im Zentrum des Geschehens steht dabei die innige, herzerwärmende Vater-Sohn-Beziehung und die Folgen, welche die Veränderungen im Leben des Sohnes mit sich bringen. Bergman geht dabei äusserst einfühlsam und realistisch um mit Autismus, der Lebenswelt eines Autisten und dem in diesem Bereich allgegenwärtigen Thema des Umgangs mit Wandel. Es geht um die Unterbringung von einem autistischen Menschen, darum, welches der beste Aufenthaltsort für ihn ist und sein wird, falls Aharon einmal nicht mehr in der Lage sein sollte, zu Uri zu schauen. Eindringlich wird sichtbar, wie gut die Bindung zwischen den beiden ist, indem sie Ausflüge miteinander unternehmen und Aharon seinen Sohn und die notwenigen Umgangsformen mit ihm in- und auswendig kennt.

Die Verhaltensmuster von Uri mit stereotypen Bewegungen, der Tendenz zu selbstverletzendem Verhalten in Stresssituationen und sensiblem, seinen Bedürfnissen entsprechendem Umgang sind äusserst realistisch dargestellt und gespielt. Bestes Beispiel dafür: Uri hat Angst, es könnte Schnecken auf der Strasse haben, was Aharon dazu veranlasst, auf Uris Angst einzugehen und folglich entsprechend zu handeln. Hier hat das Filmteam grossartige Recherchearbeit geleistet.

Gleichzeitig zeigt Here We Are aber auch den gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung, wie unsensibel grösstenteils noch immer reagiert wird, wenn ein Mensch sich «anormal» verhält. Niemand hilft Aharon, wenn Uri eine Krise durchlebt, sich selbst schlägt oder kaum mehr zu bändigen ist, mitten auf dem Perron eines Bahnhofes.

Stimmig wird die Chemie zwischen den beiden Hauptdarstellern inszeniert, die kleinen Details wie gemeinsames Musikhören oder Rasieren fallen dabei besonders auf und sorgen für ein angenehmes Wärmegefühl im Brustkorb. Dennoch ist Here We Are kein reines Feelgood-Movie, baut der Film doch in den richtigen Momenten genügend Dramatik auf, um den Zuschauern eine Träne zu entlocken.

Uri ist grosser Charlie Chaplin-Fan. Dies wird durch kurze Filmausschnitte, welche er sich auf dem portablen DVD-Player stets ansieht, immer wieder aufgenommen und schlussendlich gar als grosse Referenz benutzt. So werden sowohl Titel wie auch Ende des Filmes mit typischen Stummfilm-Tafeln eingeläutet, während er musikalisch mit «lüpfigen» Tönen aufwartet, ganz im Stile der alten Chaplin-Filme. Here We Are deckt die ganze emotionale Palette ab, berührt und regt zum Lachen an. Aus dem Drama wird ein kleiner, feiner Roadtrip mit all seinen Macken und Tücken, ohne dabei den Fokus aus dem Blickfeld zu verlieren: die ungewisse Zukunft für den autistischen Jungen.

Yannick Bracher [yab]

Yannick ist Freelancer bei OutNow seit Sommer 2015. Er mag (Indie-)Dramen mit Sozialkritik und packende Thriller. Seine Leidenschaft sind Filmfestivals und die grosse Leinwand. Er hantiert phasenweise noch mit einem Super-8-Projektor und lernt die alten Filmklassiker kennen und schätzen.

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Trailer Originalversion, mit deutschen und französischen Untertitel, 01:37