Love Me Tender (2019)

Love Me Tender (2019)

  1. 83 Minuten

Filmkritik: Ausbruch aus dem inneren Gefängnis

Seconda in ihrer Wohnung
Seconda in ihrer Wohnung © First Hand Films

Seconda (Barbara Giordano) ist - nomen est omen - die zweite Tochter eines etwas älteren Ehepaars. Ihre jüngere Schwester ist gestorben, Seconda der zweite, erfolgreiche Versuch der Eltern. Sie plagt eine psychische Störung, die sie daran hindert das Haus zu verlassen. Es fehlt ihr unter anderem an Druck, sich ihrer Krankheit zu stellen. Ganz zum Leidwesen des Vaters, schirmt sie die Mutter von allem ab. Als diese aber plötzlich stirbt, sieht der Vater eine Chance, dem Ganzen zu entfliehen und überlässt Seconda sich selbst.

Der Moment der Befreiung
Der Moment der Befreiung © First Hand Films

Nach einer gewissen Zeit gehen Seconda die Lebensmittel aus, weswegen sie erfinderisch sein muss, um zu überleben. Vom Fenster aus beobachtet sie, was in ihrem Blickfeld passiert oder sie lauscht gebannt den Telefonanrufen eines Fremden, der die Schulden ihres Vaters eintreiben will. Die Beleidigungen und Anzüglichkeiten des Mannes sind lange Zeit alles, was sie an menschlicher Zuwendung hört.

Die Schweizerin Klaudia Reynicke hat in ihrem zweiten Langspielfilm erneut eine weibliche Figur in den Vordergrund gestellt, die sich mit engstirnigen, einengenden Verhältnissen auseinandersetzen und sich aus den Fängen ihrer Familie lösen muss, um ein eigenes Leben beginnen zu können. Abgesehen davon, dass Reynicke einen wichtigen Beitrag für die Präsenz des Italienischsprachigen in der Schweizer Filmproduktion leistet - auch Love Me Tender spielt im Tessin-, gehört sie zu den interessanten Stimmen des jungen Schweizer Films überhaupt. Das zeigt sich auch hier.

Die Hauptfigur lebt in zweifacher Hinsicht in einem Gefängnis: Einem inneren und einem äusseren. Die enge Wohnung kann sie nicht verlassen, weil ihr Bewusstsein in einer Angstneurose gefangen ist. Dieses beklemmende Gefühl schafft die Regisseurin mit einfachen Mitteln eindrücklich zu vermitteln. Es ist insgesamt ein reduzierter Darstellungsstil, auf den die Autorin setzt. Die ganze Stärke des Films liegt in der schauspielerischen Leistung der Hauptdarstellerin. Jede Szene ist auf Barbara Giordano ausgerichtet, die Kamera bewegt sich in ihrem Rhythmus, fast so als würde sie ihren Herzschlag nachempfinden.

Geschickt spielt Reynicke mit den Erwartungen, die der Titel des Films suggeriert. Eine Schnulze, eine einschmeichelnde Liebesgeschichte ist Love Me Tender nämlich nicht. Diese drei Worte sind vielmehr ein stiller Hilferuf, den die Hauptfigur mit all ihren Gesten ausstösst. Mit der expressiven Tanzchoreographie, die Seconda unaufgefordert zum Besten gibt und die ihren zwischen Zerbrechlichkeit und Selbstbewusstsein pendelnden Charakter unterstreicht, schreit sie nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Ein weiterer guter Einfall findet sich in Secondas Kostüm. Eingemummelt in einen blau-grünen Riesenstrampelanzug mit zugeschnürter Kapuze gleicht sie einem glitschigen Fisch, der schwer zu fassen ist. Das passt als Symbol nicht nur für die Hauptfigur, sondern auch für den Film selbst, der sich einer strikten Kategorisierung entzieht.

Love Me Tender ist ein Film über eine Befreiung, eine Emanzipation. Die Mischung aus der weitgehend realistischen Handlung und den unterschiedlichen surrealen-fantastischen Elementen macht daraus ein vielschichtiges Drama, das auch seine humorvollen Momente hat. Insgesamt handelt es sich um einen interessanten und kurzweiligen Autorenfilm, der aber stellenweise repetitiv wirkt und dem eine stringente sowie einheitliche Bildsprache fehlt.

/ Teresa Vena [ter]

Trailer Italienisch, mit deutschen und französischen Untertitel, 01:11