Es beginnt alles ganz lustig. Ganz im Stil von Super Size Me, wo sich Morgan Spurlock mit McDonald's-Fressalien vollstopfte und dies mit seiner Kamera dokumentierte, macht Regisseur und Velofan Bryan Fogel hier den Doping-Selbsttest. Eine simple, aber effektive Idee, dem nicht mehr ganz frischen Thema - der Armstrong-Skandal wurde schliesslich schon in The Armstrong Lie dokumentarisch und in The Program fiktiv erschöpfend aufgearbeitet - etwas Neues abzugewinnen. Erwartet werden darf ein launiger Crowdpleaser, bei dem man schon am Anfang ahnt, wie es am Ende rauskommt.
Hier kommt allerdings alles ganz anders. Nur in der ersten halben Stunde geht der Film den erwarteten Weg: Er zeigt, wie erschreckend easy es ist, an die entsprechenden Substanzen ranzukommen und die Anti-Doping-Tests auszutricksen. Gerade der russische Protagonist Grigory Rodchenkov entlockt den Zuschauern mit seiner nonchalanten Art öfter als einmal ein ungläubiges Lachen. Dass dieser ein ziemliches Schlitzohr ist, wird schnell mal klar. Man fragt sich, weshalb er freimütig einwilligt, in dem Film mitzuwirken.
Doch dann wenden sich die Ereignisse. Aus dem Spassvogel wird plötzlich ein Whistleblower, und aus Super Size Me wird Citizenfour - den Vergleich mit Snowden bringt Rodchenkov gleich selbst. Plötzlich geht's um brisante Ermittlungen bis in die höchsten politischen Kreise, bei denen es sich längst nicht nur um Sport dreht. Der russische Anti-Doper, der natürlich selbst reichlich Dreck am Stecken hat, mutiert plötzlich zum allseits gejagten Kronzeugen der Justiz, der ernsthaft um sein Leben fürchten muss. Und mittendrin statt nur dabei: der amerikanische Regisseur, der eigentlich nur ein Filmchen über seine Doping-Selbstversuche drehen wollte. So zumindest wird es präsentiert.
Das ist alles ziemlich spannend und beängstigend. Wie ein Krimi begleitet der Film den Russen bei seiner Flucht aus dem Heimatland, bei der Vernehmung durch seinen Anwalt und bei seinen Enthüllungen über die hochprofessionell organisierten Doping- und Vertuschungsaktionen der russischen Sportler - die er notabene selbst orchestriert hat. Und genau dies kann auch etwas sauer aufstossen: Die Art, wie sich Rodchenkov hier als Held präsentiert, hat etwas unangenehm Ambivalentes, weiss man um seine dubiose Vergangenheit. Und dass er einfach nur ein Opfer des Systems ist, mag man ihm auch nicht ganz abnehmen.
Kommt hinzu, dass sich der nicht sehr klar strukturierte Film gegen Ende arg in die Länge zieht. Fogel verliert sich stellenweise dabei, seinem Freund und Protagonisten Rodchenkov an den Lippen zu hängen, wie dieser über Orwells «Nineteen Eighty-Four» philosophiert. Spätestens hier offenbart der Film seine dramaturgischen Schwächen. Dennoch: Mit Icarus gibt Regisseur Bryan Fogel zweiffellos einen gleichermassen spannenden wie auch beängstigenden Einblick in die Abgründe des Sports. Das ist wohl mehr, als er am Anfang selbst erwartet hätte.