Juste la fin du monde (2016)

Juste la fin du monde (2016)

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  2. 97 Minuten

Filmkritik: Diese Familie hat einen Vogel

69e Festival de Cannes 2016
Bei Bond war's aufregender.
Bei Bond war's aufregender. © Praesens Film

Nach zwölf Jahren Abwesenheit kehrt der erfolgreiche Dramatiker Louis (Gaspard Ulliel) zu seiner Familie zurück, die in einem abgelegenen französischen Landhaus lebt: zu seiner Mutter (Nathalie Baye), seiner jüngsten Schwester Suzanne (Léa Seydoux), seinem Bruder Antoine (Vincent Cassel) und dessen Ehefrau Catherine (Marion Cotillard), die er zum ersten Mal sieht. Louis ist aus einem ganz bestimmten Grund zurückgekehrt: Er ist schwer erkrankt und weiss, dass er sterben wird. Nun will er also die Hiobsbotschaft seiner Familie mitteilen.

Gedankenübertragung funktioniert leider noch nicht kabellos.
Gedankenübertragung funktioniert leider noch nicht kabellos. © Praesens Film

Doch was ist der richtige Zeitpunkt dafür? Gleich bei der Begrüssung findet er unpassend, also vielleicht irgendwann nach dem Essen, beim Dessert? Während sich Louis darüber den Kopf zerbricht, überlässt er das Wort erstmal den anderen Familienmitgliedern. Dabei gelangen auch verdrängte Gefühle an die Oberfläche. Vor allem der impulsive Antoine macht Louis implizit Vorwürfe, die Familie damals verlassen zu haben. Nur Catherine, die Louis bis an diesem Nachmittag nicht gekannt hat, scheint frei von Verbitterung ihm gegenüber.

Im Vergleich zu Xavier Dolans bisherigen Filmen ist Juste la fin du monde zweifellos emotional distanzierter. Die ambitionierte Verfilmung des gleichnamigen Theaterstückes ist anfänglich schwer zugänglich, auch wegen ihrer Dialoglastigkeit. Es ist dem Starensemble um Marion Cotillard, Léa Seydoux, Nathalie Baye, Gaspard Ulliel und Vincent Cassel zu verdanken, dass dies nicht über die ganze Filmlänge so bleibt und am Ende doch auch noch das Herz ein wenig angesprochen wird. Die ganz grosse Liebe ist Dolans Neuester leider nicht, doch für eine gute Freundschaft reicht es allemal.

Langsam ist es an der Zeit, Xavier Dolan nicht mehr mit obligatorischen Beinamen wie "Regie-Wunderkind" oder "Jungregisseur" zu versehen. Immerhin ist Juste la fin du monde bereits der sechste Film des mittlerweile 27-jährigen Kanadiers und der erste, in dem er eine literarische Vorlage adaptiert - und dann erst noch ein Theaterstück. Die Dialoglastigkeit, der strenge Aufbau und die räumliche Beschränkung scheinen auf den ersten Blick so gar nicht Dolans überschäumendem Talent zu entsprechen.

So muss man sich zuerst tatsächlich mal ein wenig an das Setting gewöhnen. Dolan nutzt in den rasend schnellen Dialogen häufig Nahaufnahmen sowie schnelle Schnitte und Gegenschnitte, unterlegt mit einer anfänglich etwas zu schwelgerischen Musik von Gabriel Yared. Dies erschwert es den Zuschauern anfänglich, eine emotionale Bindung zu den Figuren aufzubauen. Es liegt so an den Schauspielern, diese allmählich mit Leben zu füllen. Und hier hat sich Dolan bei der Crème de la crème des französischen Kinos bedienen können. Herausstechend ist dabei vor allem Nathalie Baye, übrigens die einzige im Cast, die - in Laurence Anyways - schon mal mit dem Regisseur gearbeitet hat. Louis' Mutter, die ihre seelischen Narben mit greller Schminke zu übertünchen versucht, ist eine Paraderolle für sie, die sie mit Bravour meistert.

Vincent Cassel spielt einen typischen Vincent-Cassel-Charakter, schafft es aber, die Verzweiflung und Unsicherheit hinter dem aufbrausenden Antoine durchblicken zu lassen. Auch Marion Cotillard als scheue Catherine und Léa Seydoux als kleine Schwester Suzanne vermögen ihren Figuren im Verlaufe des mit 95 Minuten relativ kurzen Filmes ein Profil zu verleihen. Ironischerweise ist es gerade Gaspard Ulliel in der eigentlichen Hauptrolle als Louis, der hier am wenigsten zur Geltung kommt, ja fast ein wenig untergeht. Doch widerspiegelt genau dieser Fakt die kommunikative Dynamik dieser Familie, von der Louis geradezu überfahren wird. Man beginnt dabei zu ahnen, warum die Hauptfigur damals aus diesem Leben hat ausbrechen müssen.

Der im Verlauf eines Nachmittags spielende Film besteht aus einigen gemeinsamen Szenen sowie je einem Eins-zu-Eins-Dialog jedes Familienmitgliedes mit Louis. Diese relativ starre Struktur unterbricht Dolan mit einigen Rückblende-Sequenzen, die er - für ihn typisch - mit Popsongs unterlegt. Das sorgt einerseits für etwas Auflockerung in dem sehr dialog- oder besser gesagt monologlastigen Film (denn Ulliel als Louis spricht nie viel); andererseits wirkt es auch ein wenig wie ein Fremdkörper. Aber vielleicht muss sich der Nicht-mehr-so-ganz-Greenhorn-Regisseur gerade auch in diesem so "erwachsenen" Film doch noch ein bisschen die freche Jugendlichkeit bewahren, mit der er in seinen vergangenen Filmen bekannt geworden ist.

Simon Eberhard [ebe]

Aufgewachsen mit Indy, Bond und Bud Spencer, hatte Simon seine cineastische Erleuchtung als Teenager mit «Spiel mir das Lied vom Tod». Heute tingelt er durch Festivals und mag Krawallfilme genauso wie Artsy-Farts. Nur wenn jemand einen Film als «radikal» bezeichnet, rollt er genervt mit den Augen.

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Trailer Französisch, mit deutschen Untertitel, 01:36