American Honey (2016)

American Honey (2016)

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  2. 163 Minuten

Filmkritik: Lustig ist das Zeitschriftenverkäuferleben

69e Festival de Cannes 2016
Auch Rastlose müssen rasten.
Auch Rastlose müssen rasten. © Universal Pictures International Switzerland. All Rights Reserved.

Die 18-jährige Star (Sasha Lane) lebt ein Leben am Rande des Existenzminimums. Ihr Freund ist ein Loser, und ihre beiden deutlich jüngeren Geschwister, auf die sie aufpassen muss, sind ihr eine Last. Als sie eines Tages auf den attraktiven Jake (Shia LaBeouf) trifft, der mit einer Truppe ausgelassener Aussteiger per Bus durch die Gegend tourt, fühlt sie sich von dem unbeschwerten Lebensstil angezogen. Jake versucht sie zu überreden, sich ihm und seiner Truppe anzuschliessen. Sie lehnt zunächst ab, entschliesst sich kurz später aber trotzdem, aus der Tristesse auszubrechen. Sie lässt die Geschwister bei ihrer Mutter zurück und macht sich auf den Weg nach Kansas.

Sie merkt aber bald, dass auch das wilde Aussteigerleben nicht ohne Regeln auskommt. Unter der strengen Leitung von Krystal (Riley Keough) müssen die jungen Leute Zeitschriften-Abos an den Mann bringen. Wer zu wenig Geld macht, wird bestraft oder fliegt schlimmstenfalls sogar raus. Jake ist der beste Verkäufer der Truppe und übernimmt die Ausbildung von Star. Sie merkt schnell, dass ihm keine Lüge zu frech ist, um ein Abo zu verkaufen. Während sie sich in die Gruppe zu integrieren versucht, kämpft Star mit ihrem Gewissen und ihren Gefühlen.

Die Engländerin Andrea Arnold hat sich eines ur-amerikanischen Themas angenommen und mit American Honey ein Roadmovie über den Traum von Freiheit gedreht - der sich allerdings als etwas komplizierter erweist als gedacht. Die Regisseurin bedient sich ähnlicher Stilmittel wie schon bei Fish Tank und zaubert mit der Debütantin Sasha Lane eine phänomenale Hauptdarstellerin aus dem Hut. Dass der Film aufgrund repetitiver Elemente etwas langgezogen ist, mag man da gerne verzeihen.

Nach einem Ausflug ins Genre der "Period Pieces" mit Wuthering Heights macht Regisseurin Andrea Arnold dort weiter, wo sie 2009 bei Fish Tank aufgehört hat. Dabei setzt sie wiederum auf das bewährte Erfolgsrezept des Vorgängers: Sie nimmt eine unbekannte junge Newcomerin und vertraut ihr den Film vollständig an. Genauso wie damals Katie Jarvis ist es jetzt Sasha Lane, die den gesamten Film in seiner monströsen Länge von 160 Minuten auf ihren Schultern trägt und in praktisch jeder Szene präsent ist. Ebenfalls ist wie schon beim Vorgänger wieder die (Rap-) Musik ein prägendes Element des Filmes.

Und was soll man sagen, Arnold landet mit dem Rezept erneut einen Volltreffer. Sasha Lane füllt ihre Figur mit Leben, verkörpert die Sehnsucht nach Liebe und Freiheit genauso überzeugend wie die innerliche Unsicherheit, die sie hinter einer gleichgültigen "Waswotsch?"-Attitüde versteckt. Die Frau ist echt eine Wucht. Da muss auch der eigentliche Star des Filmes, Shia LaBeouf, hinten anstehen. Zusammen mit der aus Mad Max: Fury Road bekannten Elvis-Enkelin Riley Keough bringt er die schauspielerische Routine in den Film, in dem ansonsten neben Lane praktisch ausschliesslich Debütanten spielen. Der Charakter von LaBeouf ist nicht ganz so vielschichtig wie derjenige von Lane, doch schafft auch er es, den selbstgefälligen Zeitschriftenverkäufer facettenreich darzustellen.

So ist American Honey in den besten Momenten ein hervorragendes Aussenseiter-Drama. Der Erzählfluss ist betont langsam, und dem wilden Partyleben der Verkäufertruppe wird viel Zeit eingeräumt. Das ist wohl konsequent, bläst den Film aber auch ein wenig auf und macht ihn repetitiv. Die genannte Überlänge ist so denn in einigen Momenten spürbar, insbesondere, weil Arnold wiederum mit Handkamera arbeitet, was dem Film einen zwar authentischen, aber auch anstrengend verwackelten Look gibt. Dennoch: Dadurch, dass das Drehbuch jegliche Klischees vermeidet, entsteht ein glaubhafter und bewegender Film, der sich besonders dank seinen Darstellern vom Durchschnitt abhebt. Ihn ein "Kleinod" zu nennen, ist angesichts der stolzen Länge vielleicht etwas unpassend. Doch auf jeden Fall ein Geheimtipp für Fans des amerikanischen Indiekinos.

Simon Eberhard [ebe]

Aufgewachsen mit Indy, Bond und Bud Spencer, hatte Simon seine cineastische Erleuchtung als Teenager mit «Spiel mir das Lied vom Tod». Heute tingelt er durch Festivals und mag Krawallfilme genauso wie Artsy-Farts. Nur wenn jemand einen Film als «radikal» bezeichnet, rollt er genervt mit den Augen.

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