Mommy (2014)

Mommy (2014)

  1. 139 Minuten

Filmkritik: Quadratisch, praktisch, gut

«Wodschpuffmann?»
«Wodschpuffmann?» © Pathé Films AG

Diane «Die» Després (Anne Dorval) hat kein einfaches Leben: Ihr 15-jähriger Sohn Steve (Antoine Olivier Pilon), den sie seit dem Tod ihres Mannes alleine erzieht, leidet an ADHS: Obwohl im Grunde charmant und liebenswert, kann er sich nicht unter Kontrolle halten und neigt zu spontanen Wutanfällen und Gewaltausbrüchen. Dies hat ihn schon oft in Konflikt mit dem Gesetz gebracht. Diane hat seinetwegen schon mehrere Male den Job verloren, dennoch kommt es für sie nicht in Frage, Steve in psychiatrische Obhut zu geben. So dreht sich denn ihr ganzes Leben um ihn und umgekehrt, was auch oft zu Konflikten führt.

Woman in the mirror
Woman in the mirror © Pathé Films AG

Eines Tages lernen die beiden ihre neue Nachbarin Kyla (Suzanne Clément) kennen, die frisch zugezogen ist. Sie ist eigentlich Lehrerin, arbeitet aber derzeit nicht, weil sie an einer leichten Sprechstörung leidet. Anfangs sehr schüchtern, taut sie immer mehr auf und wird so zur besten Freundin von Diane und Steve. Zusammen verbringen sie schöne Tage. Doch der nächste Rückschlag lässt nicht lange auf sich warten.

Xavier Dolan kann's noch immer. Gedreht im unorthodoxen 1:1-Bildformat, fokussiert der fünfte Film des Jungregisseurs ganz auf das symbiotische Verhältnis zwischen Mutter und Sohn und die Probleme, die hieraus entstehen. Die Schauspieler sind schlicht eine Wucht und helfen damit auch souverän über die etwas dürre Story sowie einige manierierte Regiemacken hinweg.

Das Augenfälligste am neuen Film von Xavier Dolan ist sicherlich das Bildformat: Das 25-jährige Regie-Wunderkind hat sich für das sehr ungewöhnliche Seitenverhältnis 1:1 entschieden. Das heisst also: Das Bild ist Kino-untypisch quadratisch. Nur für zwei Szenen «öffnet» es Dolan und wechselt ins Querformat; natürlich sind dies die zwei glücklichsten, unbeschwertesten Szenen im Film, die sozusagen den Ausbruch aus der Enge illustrieren. Eine nette Spielerei.

Ansonsten drängt sich natürlich der Vergleich mit Dolans Debutfilm J'ai tué ma mère auf, die Parallelen sind einfach zu offensichtlich. Nicht nur geht es hier wie dort um das schwierige Verhältnis eines Teenagerjungen zu seiner Mutter. Diese wird mit Anne Dorval auch von derselben Schauspielerin verkörpert. Und auch Suzanne Clément ist in beiden Filmen die Person «von aussen», die die Beziehung zwischen Mutter und Sohn beeinflusst. Nur die Rolle des Teenagers, damals von Dolan selbst gespielt, wird nun von einem Neuling verkörpert. Und wie: Antoine Olivier Pilon lebt seine Rolle förmlich, er geht geradezu in ihr auf. Dies kann zwischendurch ziemlich auf die Nerven gehen, aber das liegt angesichts seiner Krankheit in der Natur der Sache.

Seine beiden Kolleginnen stehen ihm in nichts nach. Anne Dorval kann mit ihren sarkastischen Sprüchen und den lustigen frankokanadischen Flüchen nicht nur für die meisten Lacher sorgen. Auch in den emotionalen Szenen vermag sie ihre latente Anspannung und Überforderung auszudrücken, die sie als Mutter eines ADHS-Jungen empfindet. Etwas zurückhalten muss sich hingegen Suzanne Clément, die in Dolans vorletztem Film Laurence Anyways noch brillieren konnte. Dennoch zeigt sie auch in dieser ruhigeren Rolle eine feine Leistung. Allen Schauspielern kommt das Bildformat insofern entgegen, als so viel stärker auf ihre Mimik fokussiert wird.

Mit Mommy wurde Xavier Dolan erstmals in den Haupt-Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes eingeladen. Ob Zufall oder nicht: Tatsächlich wirkt sein neuster Film reifer als noch seine manchmal überdrehten Vorgänger. Alle Regie-Mätzchen hat er sich allerdings nicht austreiben lassen: die immer wieder eingestreuten, eher überflüssigen Slowmotion-Szenen beispielsweise, oder auch seine Vorliebe, Szenen mit Popsongs zu unterlegen (unter anderem von Dido, Céline Dion oder Oasis), die dann in voller Länge ausgespielt werden.

Der grösste Schwachpunkt des Films ist allerdings die Geschichte: Sie ist eigentlich nur Mittel zum Zweck und für die stolze Filmlänge von über zwei Stunden etwas gar dürftig. Es fehlt zudem an «Magic Moments», mit denen sein bisher bester Film Laurence Anyways noch so zahlreich auftrumpfen konnte. An diesen kommt Dolans Neuster daher nicht ran, dennoch ist er berührendes Schauspielerkino.

Simon Eberhard [ebe]

Aufgewachsen mit Indy, Bond und Bud Spencer, hatte Simon seine cineastische Erleuchtung als Teenager mit «Spiel mir das Lied vom Tod». Heute tingelt er durch Festivals und mag Krawallfilme genauso wie Artsy-Farts. Nur wenn jemand einen Film als «radikal» bezeichnet, rollt er genervt mit den Augen.

  1. Artikel
  2. Profil
  3. E-Mail
  4. facebook
  5. Twitter
  6. Instagram
  7. Letterboxd