1975, im Bündner Bergkaff Trepunt: In der Kirche wird der Sigrist erhängt aufgefunden - offenbar Selbstmord. Während des Trauerzuges taucht im Dorf eine zerlumpte junge Frau (Roxane Mesquida) auf. Mit ihrem wilden Äusseren macht die stumme Unbekannte den Dorfbewohnern von Beginn weg einen unheimlichen Eindruck. Deshalb ist man bald überzeugt, dass die Frau, die anscheinend von der nahe gelegenen Höhenalp gekommen ist, vom Teufel besessen und für den Tod des Kirchdieners verantwortlich ist. Nur Dorfpolizist Reusch (Nicholas Ofczarek) glaubt nicht an Spukgeschichten und nimmt sich ihrer an.
Reusch macht sich auf den Weg auf die Höhenalp. Dort findet er ein leeres Haus und ein verglühtes Kaminfeuer vor - offenbar ist Senn Erwin (Andrea Zogg), der die Alp mit dem stummen Jungen Albert (Joel Basman) bewohnt, gerade auf der Jagd. Was der Polizist nicht weiss: Die beiden Sennen und der welsche Landdienstler Martin (Carlos Leal) haben sich im Absinth-Rausch ein «Sennentuntschi» gebastelt. Diese Puppe soll - so die Sage - dereinst lebendig geworden und von drei Sennen brutal erniedrigt worden sein, worauf sie sich blutig gerächt hat. Ob das Sennentuntschi nun auch auf der Höhenalp lebendig geworden ist...?
Spätestens, wenn Carlos Leal begleitet von Serge-Gainsbourg-Klängen aus dem gelben Postauto steigt, weiss man: Ja, Michael Steiner war wieder am Werk! Wie schon in Mein Name ist Eugen manifestiert sich auch in seinem neuen Film die Detailverliebtheit, mit der die Schweiz vergangener Tage in Szene gesetzt wird. Vor minoren Fehlern ist man da nicht gefeit, beispielsweise wenn in einer Szene plötzlich eine Zeitung ihren Namen ändert. Macht nichts, denn die wohlig-warme Retro-Schweiz-Atmosphäre ist wunderbar wiedergegeben. Nur schon deswegen ist es lohnenswert, sich den Film anzuschauen, der uns aus bekannten Gründen so lange vorenthalten wurde.
Mit Sennentuntschi verabschiedet sich Steiner freilich vom netten Lausbubenfilm und präsentiert stattdessen einen auf einer tatsächlich existierenden Sage beruhenden Mystery-Thriller. Ein in der Schweiz rares Genre, obwohl sich unheimliche Berg-Mythen geradezu dafür anbieten. Man erinnere sich an Marmorera. Und die Parallelen zwischen den beiden Filmen sind unübersehbar: eine schöne Unbekannte, eine schaurige Sage und ein abgelegenes Bergdorf - alles da. Selbst die Gesichter der Dorfbewohner kommen einem bekannt vor. Wen wundert's, sind Hanspeter Müller, Ueli Jäggi und Peter Jecklin doch hier wie dort mit von der Partie.
Die Hauptrollen gehören allerdings anderen. Primär der Französin Roxane Mesquida, die ihre stumme Rolle ausschliesslich mit Mienenspiel und Körpersprache interpretieren muss und dies auf beeindruckende Art und Weise tut. Ihr zur Seite stehen drei unterschiedliche Schweizer: Während dem Bündner Andrea Zogg der knorrige Alpsenn auf den Leib geschrieben scheint, ist es doch etwas überraschend, dass auch die Stadtbuben Carlos Leal und Joel Basman in ihren Rollen vollauf überzeugen. Der Österreicher Nicholas Ofczarek schliesslich spielt den naiven Dorfpolizisten mit einer bedächtigen Tapsigkeit, was ihn zwar nur beschränkt heldentauglich macht, aber der Rolle durchaus entspricht.
Nicht erst seit Eugen ist Michael Steiner bekannt für seine «unschweizerischen» Filme. Und tatsächlich: Sennentuntschi ist rasant inszeniert, zackig geschnitten und hat einen ansprechenden Soundtrack - und genau in dieser «amerikanischen» Rasanz hebt er sich auch von Filmen wie Marmorera ab. Auch die zeitversetzte Erzählweise der beiden Handlungsstränge ist clever und sorgt für Spannung. Wenn am Ende einige wenige inhaltliche Ungereimtheiten bestehen bleiben, ist das nicht zu tragisch. Der Film ist Popcornkino im besten Sinne. Einige deftige Szenen mögen zwar dazu führen, dass sich der eine oder andere am Popcorn verschluckt, doch allzu übel wird's nicht.
Ein Horrorfilm ist Steiners Werk nämlich definitiv nicht. Dafür aber ein durch und durch stimmiger Mysterythriller, der - misst man ihn an Hollywood - das Rad nicht neu erfindet, doch zumindest für die Schweiz neue Massstäbe setzt. Da sieht man dem Regisseur auch den Gag nach, in der Eingangsszene das garantiert unbündnerische Matterhorn in den idyllischen Berghorizont hineinzukleben.
Simon Eberhard [ebe]
Aufgewachsen mit Indy, Bond und Bud Spencer, hatte Simon seine cineastische Erleuchtung als Teenager mit «Spiel mir das Lied vom Tod». Heute tingelt er durch Festivals und mag Krawallfilme genauso wie Artsy-Farts. Nur wenn jemand einen Film als «radikal» bezeichnet, rollt er genervt mit den Augen.