Wir schreiben das Jahr 1955. Nicht zuletzt dank der Erfindung des Nanomaterials Polyme durch den Forscher Dimitry Sechenov ist die Sowjetunion als Siegermacht aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen und hat sich zu einer technologischen Übermacht entwickelt. Schwebende Städte und Verkehrsmittel gehören genauso zum Alltag wie die zahlreichen Roboter, die den Menschen die alltägliche Arbeit abnehmen.
Wer hätte es gedacht: Bei diesem harmonischen Zusammenleben von Mensch und Maschine bleibt es nicht. Die Utopie verwandelt sich im Handumdrehen in eine Dystopie, als die Roboter plötzlich durchdrehen und anfangen, Frauen und Männer abzuschlachten. Zum Glück ist da noch Spezialagent Sergey Nechaev, der sich gerade auf dem Weg in die streng geheime Forschungsbasis Facility 3826 befand, als der Wahnsinn losbrach. Nun liegt es an ihm und seinem sprechenden Wunderhandschuh Charles, herauszufinden, wer oder was hinter der Katastrophe steckt, und der Sache ein Ende zu setzen.
Offensichtlich liessen sich die Macherinnen und Macher hinter dem First-Person-Action-Rollenspiel Atomic Heart in vielerlei Hinsicht von einschlägigen Genreveteranen wie Bioshock, Prey oder Fallout beeinflussen. Dank zahlreichen kreativen Ideen, dem prächtigen Artdesign und einer technisch sauberen Umsetzung verdient sich das Spiel einen Platz unter der Sonne, auch wenn es nicht bis aufs Podest reicht. Die wirre, leidlich spannende Geschichte, Humor zum Fremdschämen sowie kleinere spielerische Mängel verhindern, dass dieser Titel zu den genannten Genreveteranen aufzuschliessen vermag.
Augenscheinlich wissen die Köpfe hinter Atomic Heart um die grosse Stärke ihres Spiels: das fantastische Artdesign ihrer retro-futuristischen Version einer alternativen Sowjetunion. Selbstbewusst lassen sie die Spieler erst einmal mehrere Minuten lang ohne irgendwelche Hektik oder Actionelemente durch eine dicht bevölkerte Stadt laufen, wo Roboter und Menschen friedvoll zusammenleben. Opulente Bauten ragen in den Himmel, und untermalt wird das alles vom passenden Soundtrack.
30 Minuten dauert es, bis die eigentliche Action einsetzt. Bereits hier zeigen sich zwei Extreme, die sich durch das gesamte Spiel ziehen: auf der einen Seite das grossartige Artdesign, das einen manchmal regelrecht ins Staunen versetzt. Auf der anderen Seite der pubertäre Humor, meist in Form von schlecht geschriebenen Dialogen oder Onelinern unseres plumpen Protaganisten.
Die opulente Oberwelt, die wir im Prolog zu sehen bekamen, wird im Folgenden durch eine unterirdische Forschungsstation ersetzt, durch die wir die nächsten rund fünf Stunden irren, bevor es wieder an die frische Luft geht. Tatsächlich wird Atomic Heart vielerorts als Open-World-Titel beschrieben, was eher unzutreffend ist. Die Open-World, die einem im weiteren Spielverlauf präsentiert wird, entpuppt sich als ein abgestecktes Gebiet, das leider sehr viel weniger imposant daherkommt als die Stadt, durch die wir noch im Prolog flaniert sind. Sie fungiert eher als Verbindung zwischen den einzelnen Forschungsstationen.
In diesen Dungeons, die ebenfalls mit viel hübschem Sowjet- und Retrochic aufzuwarten wissen, verbringen die Spieler dann auch den Grossteil ihrer Spielzeit. Zwar gibt es in der Open-World durchaus einige Erkundungsmöglichkeiten, doch macht es nur begrenzt Spass, sich darin zu bewegen. Zu schnell wird man von feindlichen Robotern erspäht, die dann Alarm schlagen, was eine Flut von Gegnern nach sich zieht. Richtige Stealth-Mechaniken gibt es im Spiel kaum. Zwar kann man sich bücken und einzelne Gegnertypen lautlos von hinten ausschalten, doch so richtig durchdacht ist das nicht.
Wenn nicht schleichen, dann eben kämpfen. Und hier hat Atomic Heart einiges mehr zu bieten. Anfangs nur mit einer Axt bewaffnet, gelangt man im weiteren Verlauf an eine reichhaltige Auswahl verschiedener Nah- und Fernkampfwaffen, die sich upgraden lassen. Doch nicht nur das. Denn unser Held hat noch ein ganz besonderes Gadget mit auf den Weg bekommen. Dieses hört auf den Namen Charles.
Auf den ersten Blick ist das bloss ein sprechender Handschuh, auf den zweiten Blick allerdings ein vielseitiges Tool, das insbesondere die Kämpfe ordentlich bereichert. Mit unserem Handschuh können wir nämlich Stromstösse abfeuern, Gegner einfrieren, einen schützenden Schild erzeugen oder Telekinese anwenden. Das sieht nicht nur cool aus, sondern ermöglicht ein vielfältigeres Vorgehen im Kampf, insbesondere weil sich die Fertigkeiten auch clever kombinieren lassen.
Die Kämpfe sind dabei gerade anfangs noch durchaus knackig. Die verschiedenen Gegnertypen machen einem das Leben immer wieder schwer, insbesondere wenn sie in der Überzahl sind. Neben verschiedenen Robotern und Maschinen hetzt uns das Spiel eklige Mutanten und bösartige Pflanzen auf den Hals. Wegen eines fehlenden Lock-On-Systems geht die Übersicht im Kampf öfter mal flöten. Noch nerviger: Unser Protagonist verhakt sich manchmal in der Umwelt, insbesondere wenn er von Gegnern in eine Ecke gedrängt wird, und bleibt dann stecken, was schnell mal zu einem vorzeitigen Tod führt. Zudem werden die Kämpfe trotz aller Waffen und Fertigkeiten auf die Dauer etwas eintönig.
Neben den Kämpfen wartet das Spiel auch noch mit Kletter- und Rätselpassagen auf. Die Knobelaufgaben nehmen dabei einen überraschend hohen Stellenwert im Spiel ein und gehören zu den grössten Stärken von Atomic Heart. Das fängt an beim Schlossknacken bei Türen an und geht über dreidimensionale Raumrätsel weiter, in denen Charles' Fähigkeiten wieder zum Tragen kommen. Der Knobelspass ist neben Loot zudem der einzige Grund, sich in der Oberwelt doch etwas länger umzusehen, da es dort versteckte Puzzle-Räume zu entdecken gibt.
Loot spielt in diesem Game wie bei seinen Genrekollegen selbstverständlich eine wichtige Rolle. Dank Charles kann man den Loot per Tastendruck und Telekinese regelrecht aufsaugen, was ganz bequem ist. Das gefundene Material kann dann an den in der Welt verteilten Automaten in Upgrades und neue Fertigkgeiten investiert werden.
Hier schlägt wieder der bereits angesprochene, ganz eigene Humor von Atomic Heart zu. Denn handelt es sich dabei nicht nur um einen sprechenden Automaten, sondern auch um einen notgeilen Automaten, der es auf uns abgesehen hat, und der neben Upgrades hauptsächlich schlüpfrige Anmachsprüche von sich gibt. Gespeichert wird manuell an den - zum Glück der Sprache nicht mächtigen - Speicherstationen.
Unterm Strich macht Atomic Heart vieles richtig, und schafft es mit eigenen kreativen Ideen, mehr zu sein als ein blosser ideenloser Klon beliebter Genreveteranen. Mit seinem tollen Artdesign, dem stimmungsvollen Soundtrack und seinen einfallsreichen Knobelpassagen braucht sich der Titel nicht zu verstecken.
Neben kleineren spielerischen Mängeln ist es insbesondere die enttäuschende Open-World, welche den Gesamteindruck dämpft. Da wird im Prolog noch eine prunkvolle Open-World ausladend angeteast, nur um sie dann im eigentlichen Spielverlauf gegen eine generische, frei begehbare Landschaft zu ersetzen, die eigentlich bloss als Durchgangszone zwischen den einzelnen Forschungsstationen dient. Leider weiss auch die wirre Handlung nie richtig zu packen, was nicht zuletzt an der unsympathischen Hauptfigur und dem völlig vergeigten Humor liegt, der nicht selten zum Fremdschämen einlädt.
Pascal Gut [gut]
Pascals Faszination gehört seit jeher dem Geschichtenerzählen in all seinen mannigfaltigen Formen und Ausprägungen. Schon früh hat er eine Leidenschaft fürs Schreiben entwickelt und tobt sich seither in unterschiedlichsten Projekten als freier Autor aus.